Bundeskanzler Scholz irrt, wenn er keine soziale Spaltung erkennt. Die neue Regierung muss der wachsenden Radikalisierung in der Corona-Debatte entgegenwirken. Rechthaberei dient diesem Ziel nicht.
Sie lesen einen Auszug aus dem werktäglichen Newsletter «Der andere Blick», heute von Alexander Kissler, Redaktor im Berliner Büro der NZZ. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
Ihr ehrgeizigstes und wichtigstes Ziel hat die neue deutsche Bundesregierung am Beginn des Koalitionsvertrages aufgeschrieben: «Wir wollen eine Kultur des Respekts befördern – Respekt für andere Meinungen, für Gegenargumente und Streit, für andere Lebenswelten und Einstellungen.» Sie wird sich an dieser Vorgabe ebenso messen lassen müssen wie die ehemalige Bundeskanzlerin. Angela Merkel kündigte vor ihrer letzten Legislaturperiode an, bis 2021 sollten gesellschaftliche «Spaltungen und Polarisierungen verringert, vielleicht sogar überwunden werden». An dieser Aufgabe ist sie gescheitert. Wollen SPD, Grüne und FDP es besser machen, müssen sie vor allem eins tun: entschlossen dazu beitragen, dass die wachsenden Verhärtungen und Schuldzuweisungen in der Corona-Debatte einem zivilen Miteinander weichen.
Die neuen Koalitionäre starten mit einem Wortbruch
Wie schwer die Aufgabe wird, zeigt sich an diesem Freitag. Im Eilverfahren wollen die Koalitionäre das gerade geänderte Infektionsschutzgesetz abermals ändern und eine «einrichtungsbezogene Impfpflicht gegen Covid-19» einführen. Vom 15. März 2022 an müssen dann Beschäftigte in Kliniken und Arztpraxen einen jeweils aktuellen Impf- oder Genesenen-Nachweis vorlegen. Sonst dürfen sie den jeweiligen Betrieb nicht betreten; das Gesundheitsamt wacht darüber.
Der scharfe Eingriff sowohl in die Berufsfreiheit als auch in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit bedeutet für die meisten Koalitionäre eine Abkehr von ihrer bisherigen Position. Besonders die FDP, aber auch weite Teile der Grünen und der Kanzler persönlich starten mit einem Wortbruch in die neue Ära. Noch Mitte September hatte Scholz erklärt, er lehne eine Impfpflicht ab. Eine solche 180-Grad-Wende dürfte mit dem «Respekt für andere Meinungen» nicht gemeint sein.
Im Gesetzesentwurf heisst es, «die Impfung reduziert das Risiko, sich mit Sars-CoV-2 zu infizieren und Sars-CoV-2 an andere Menschen zu übertragen, substanziell». Eine blosse Testung biete «keinen gleichwertigen Schutz zu einer vollständigen Immunisierung gerade bei Kontakt mit besonders vulnerablen Personengruppen». Die «Impflücke» müsse geschlossen werden. Zugleich herrscht bereits jetzt in vielen Kliniken Personalmangel, besonders auf den Intensivstationen. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass mit einer Impfpflicht die Lage noch prekärer wird.
Der Hass in den sozialen Netzwerken sprengt jedes Mass
Es bleibt eine gewagte Wette: Wird sich durch forciertes Impfen die Situation entspannen, ehe sie durch den Verlust von Pflegekräften eskalieren kann? Auch deshalb hätte es dem Bundestag und der neuen Regierung gut zu Gesicht gestanden, sich für eine gründliche Debatte zur Impfpflicht mehr Zeit zu lassen. Es ist nie eine Petitesse, Grundrechte unter Vorbehalt zu stellen, auch nicht in einer Pandemie.
So legitim es ist, die neuen Koalitionäre an ihre bisherigen Zusagen zu erinnern und eine Impfpflicht abzulehnen – so unanständig und illegal ist es, sich zu Gewaltphantasien und Morddrohungen zu versteigen. Der Hass, der sich in den sozialen Netzen austobt, sprengt jedes Mass. Wer Politiker vor ihrer Wohnung oder ihrem Haus aufsucht, um sie einzuschüchtern, kann sich nicht auf demokratische Grundrechte berufen. Kein Ministerpräsident und keine Ministerpräsidentin, kein Bundesgesundheitsminister und keine Landesgesundheitsministerin muss sich eine solche Verletzung der Privatsphäre gefallen lassen. Die Menschenwürde von Michael Kretschmer und Manuela Schwesig, Karl Lauterbach und Petra Köpping ist unantastbar.
Auf die Bereitschaft, andere Menschen zu diffamieren, stösst man freilich auch bei Impfbefürwortern. Zur Verrohung der Debatte hat manche Wortmeldung aus dem «Team Vorsicht» ebenfalls beigetragen. Wer, wie Altbundespräsident Joachim Gauck, ungeimpfte Personen als «Bekloppte» schmäht, verlässt den Boden des gesitteten Umgangs. Gleiches gilt für den Ärztefunktionär Frank Ulrich Montgomery, der Peitsche statt Zuckerbrot für die Ungeimpften fordert, oder für den Fernsehmoderator Günther Jauch, der die Gesellschaft in der «Geiselhaft der Impfverweigerer» wähnt, oder für manchen Verfassungsjuristen, der bereits die polizeiliche Vorladung zur Zwangsimpfung am Horizont sieht.
Olaf Scholz kennt keine roten Linien mehr
Der Hass auf Ungeimpfte steht der Verachtung für Impfbefürworter kaum nach. Nicht der Hass aber, sondern das Bemühen, den anderen zu verstehen, sollte eine aufgeklärte Gesellschaft auszeichnen. Nicht Rechthaberei, sondern Skepsis gegenüber den anderen wie den eigenen Positionen ist, um das Losungswort der «Ampel» zu zitieren, der Keim allen Fortschritts.
Die Nerven sind vielerorts nicht zum Reissen gespannt – sie sind längst gerissen. Wir haben keine gespaltene, sondern eine zerrissene Gesellschaft. Die Wahrheit liegt da beim Bundespräsidenten und nicht beim Bundeskanzler. Olaf Scholz beharrte in mehreren Interviews nach seiner Amtseinführung darauf, «die allermeisten Bürgerinnen und Bürger» seien geimpft, ergo könne die Gesellschaft gar nicht gespalten sein. Das dürfe man sich von einer «lautstarken Minderheit» nicht einreden lassen.
Faktisch kann die Frage nach der Einstellung zum Impfen noch immer für Gesprächs- und Beziehungsabbrüche sorgen – und eine Minderheit von rund 15 Millionen bisher ungeimpften Erwachsenen ist keine zu vernachlässigende Grösse. Ihnen mit Gründen zu begegnen, wäre die wirkungsvollere Strategie, als ihnen anzukündigen, «dass wir überhaupt keine roten Linien ziehen».
Der Bundespräsident wählte einen klügeren Akzent. Nachdem er die Mitglieder des neuen Kabinetts ernannt hatte, sagte Frank-Walter Steinmeier: «Gerade in dieser angespannten Lage sollten gute Argumente sprechen, nicht Verachtung, nicht Wut, schon gar nicht Hass.» Es gebe schliesslich eine Zeit nach der Corona-Pandemie, und «wir wollen uns auch nach der Krise noch in die Augen schauen können», als Nachbarn und Kollegen, Freunde und Familienmitglieder.
Genau darauf kommt es an, und auch daran wird sich entscheiden, ob die «Ampel» ein Erfolgsmodell werden wird oder eine Verlegenheitslösung. SPD, Grüne und Liberale müssen den «Respekt für andere Meinungen», den sie theoretisch bekunden, praktisch werden lassen. Wer meint, er könne sich die Mühen des Argumentierens, Zuhörens und Streitens ersparen, weil er die Macht dazu hat, der wird die Macht verlieren.