Mike Szymanski

Die 100-Milliarden-Euro-Frau

04.03.2022
Lesedauer: 3 Minuten
Foto: sz.de

Christine Lambrecht wollte sich eigentlich aus der Politik zurückziehen. Nun steht die Verteidigungsministerin vor der größten Aufgabe ihres Lebens.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht spricht in diesen Tagen häufig von einer „historischen Chance“, die sich zuletzt für die Bundeswehr aufgetan habe. Ihr Parteikollege, Kanzler Olaf Scholz, will als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr in einem Sondervermögen zur Verfügung stellen. Er hat der 56 Jahre alten SPD-Politikerin aus Hessen die Aufgabe übertragen, mit dem Geld eine leistungsfähige Armee aufzubauen.

Ihre Amtsvorgängerinnen mussten um jede Milliarde extra kämpfen, und trotzdem reichte der Etat nicht, um nur annähernd alle dringenden Wünsche aus der Truppe zu erfüllen. Lambrecht soll jetzt auf einen Schlag so viel Geld außer der Reihe bekommen, wie die Bundeswehr sonst in zwei Jahren ausgibt. Das schraubt die Erwartungen an die 100-Milliarden-Euro-Frau geradezu in schwindelerregende Höhen: Die hinlängliche bekannte Begründung für Versäumnisse bisher – es fehle schließlich an Geld – entfällt.

Das Sondervermögen und die bedrückenden Umstände – der Krieg in der Ukraine – machen Lambrecht die Arbeit künftig leichter und schwerer zugleich. Die Lage für die Ministerin im Großen: Die Zeit des „freundlichen Desinteresses“ der Deutschen an ihrer Bundeswehr, wie vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler 2005 beklagt, dürfte in diesen Wochen endgültig ihr Ende finden. Das Militärische kehrt in die Gesellschaft zurück. Es wird nicht dabei bleiben, dass Uniformierte freitags in die Züge nach Hause steigen.

Die Bundeswehr soll jetzt wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung in der Lage sein. Eine solche Armee braucht aber mehr Platz. Sie wird sichtbarer sein. Sie wird üben müssen, ihre Panzer zu verlegen, und dafür muss sie raus auf die Straße. Und das wiederum wird die Gegner einer neuen Aufrüstungspolitik, die die Parteilinke mitzutragen hat, in nicht allzu ferner Zeit auch wieder auf die Straße treiben. Lambrechts Bundeswehr wird sicher wieder polarisieren.

Die Lage im Kleinen: 100 Milliarden Euro können auch ein Fluch sein. Heute ist das Beschaffungswesen schon überfordert, die Vorhaben umzusetzen, die mit dem bisherigen Etat angeschoben wurden. Ausrüstung und Kriegsgerät einfach kaufen – so leicht ist das leider nicht. Diesen Umstand hat die Politik maßgeblich mitzuverantworten. Es gibt kaum noch ein größeres Rüstungsvorhaben, das nicht irgendwann in einem komplizierten wie langjährigen Vergaberechtsverfahren feststeckt.

Welches Produkt die Bundeswehr tatsächlich bekommt, entscheiden am Ende inzwischen Anwälte und Richter mit, nicht allein Generäle und die politische Spitze des Hauses. Außerdem sind die Lieferzeiten in der Industrie lang, daran dürfte sich aufgrund steigender Nachfrage auch anderer Länder in nächster Zeit nichts ändern. Neue Panzer würden frühestens 2024 geliefert, neue Kampfjets und Hubschrauber kämen wohl erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts.

Lambrecht bringt als frühere Justizministerin eine für die schwierigen nächsten Jahre nicht zu unterschätzende Qualifikation mit. Sie kann sich in das Vorschriften-Dickicht einarbeiten, das der Bundeswehr das Funktionieren so schwer macht. In ihrem früheren Ressort sitzen jetzt Verbündete. Ob ihr 100-Milliarden-Euro-Projekt gelingt, wird maßgeblich davon abhängen, ob sie schnell das Beschaffungswesen reformieren kann. Sonst kommt das Geld unten in der Truppe nicht an.

Es wird aber nicht genügen, die Bundeswehr nur besser zu verwalten: Wer 100 Milliarden Euro für die Truppe in die Hand bekommt, muss eine klare Vorstellung davon präsentieren, wohin sich die Bundeswehr entwickeln soll. Lambrecht, die sich eigentlich mit der Bundestagswahl 2021 aus der großen Politik zurückziehen wollte, steht vor der wohl größten Aufgabe ihres Lebens.

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