EuGH zu Europäischem Haftbefehl

Deut­sche Staats­an­wälte nicht unab­hängig genug

27.05.2019
Lesedauer: 6 Minuten
Bild: Cédric, flickr, CC BY 2.0, Zuschnitt und Skalierung durch LTO

Für die EuGH-Richter bleibt ein Restrisiko, dass die deutsche Staatsanwaltschaft beim EU-Haftbefehl durch die Politik beeinflusst werden könnte. In rund 5.600 EU-Fällen braucht es einen neuen Haftbefehl. Richterverbände fordern Gesetzesreform.

Die deutschen Staatsanwaltschaften bieten keine hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive, um zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls (EuBH) befugt zu sein. Das hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) am Montag entschieden, (Urt. v. 27.05.2019, Az. C-508/18).

Die Behörde, die mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls betraut ist, muss bei der Ausübung ihrer Aufgaben unabhängig handeln – und zwar auch dann, wenn der Europäische Haftbefehl auf einem nationalen Haftbefehl beruht, der zuvor von einem Richter oder einem Gericht erlassen wurde. Es dürfe keinerlei strukturelle Gefahr drohen, dass die Entscheidung durch Weisungen oder Anordnungen der Exekutive beeinflusst werden könnte, so die Große Kammer.

Ein strenger Maßstab. Und der hat Folgen für das deutsche System: Für die Staatsanwaltschaften in Deutschland sei nicht gesetzlich ausgeschlossen, dass im Einzelfall doch eine Weisung eines Landesjustizministers Einfluss auf ihre Arbeit nehmen könnte, so die Richter in Luxemburg am Montag. Ansatzpunkt für die Entscheidung des EuGH ist eine Formulierung in Art. 6 Abs. 1 des entsprechenden EU-Rahmenbeschlusses zum Haftbefehl (2002/584/JI), nach welcher der Haftbefehl nur von einer „Justizbehörde“ in einem Mitgliedstaat ausgestellt werden darf. Diese müsse entsprechend „unabhängig“ arbeiten können.

So funktioniert der Europäische Haftbefehl aus Deutschland bislang

Der EuHB beruht auf der Idee, dass die EU-Mitgliedstaaten die Entscheidungen ihrer Justizbehörden untereinander anerkennen und möglichst schnell und unkompliziert umsetzen. Das System – und das hat der EuGH mit seiner Entscheidung am Montag nun noch einmal betont – beruht auf gegenseitigem Vertrauen zwischen den Behörden der EU-Staaten. So können sich die Strafverfolgungsbehörden direkt an ihre Kollegen in einem anderen EU-Staat wenden, ohne dass sie ein kompliziertes Auslieferungsverfahren durchführen müssten. Das gilt, wenn es um die Strafverfolgung von Taten geht, für die eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr droht, bzw. auch dann, wenn jemand bereits verurteilt ist und eine Freiheitsstrafe von mindestens vier Monaten vollstreckt werden soll.

In Deutschland stellt in der Regel die Staatsanwaltschaft den EuHB aus. Dafür gibt es ein einheitliches Formblatt, das in allen Amtssprachen der EU vorliegt. Darin müssen Angaben zur gesuchten Person und zu den fraglichen Straftaten gemacht werden. Außerdem wird die Entscheidung angegeben, die dem EuHB zugrunde liegt: der nationale (richterliche) Haftbefehl oder das vollstreckbare Urteil.

Derzeit 5.600 europäische Haftbefehle aus Deutschland

Da in den meisten Fällen unklar ist, wo sich die gesuchte Person genau befindet, wird der EuHB in der Regel in das Schengener Informationssystem (SIS) eingestellt, das eine europaweite Fahndung ermöglicht. Diese Einstellung ins SIS übernehmen die sogenannten SIRENE-Büros, in Deutschland ist diese Stelle beim Bundeskriminalamt (BKA) angesiedelt. Auf Anfrage von LTO teilte das BKA mit, dass zur Zeit rund 5.600 Personen per europäischem Haftbefehl, ausgestellt von deutschen Justizbehörden, gesucht werden.

Eigentlich ist das Vorgehen in Deutschland kein Sonderfall. „In den meisten EU-Staaten ist es die gängige Praxis, dass die Staatsanwaltschaft den Europäischen Haftbefehl ausstellt, nachdem ein Richter einen nationalen Haftbefehl erlassen hat“, erklärt Thomas Wahl vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Neben Deutschland handhaben das auch Österreich und die meisten osteuropäischen Staaten so.

Anders ist es in Ländern wie Frankreich und Spanien, in denen ein Ermittlungsrichter zuständig ist. „Allerdings ist die Staatsanwaltschaft in vielen Ländern strikt unabhängig organisiert, und es gibt keine Weisungsbefugnis der Justizministerien“ so Wahl. In Deutschland unterstehen die Staatsanwälte dagegen der Weisungsbefugnis der Justizministerien.

Was das für die deutsche Justiz bedeutet

Der deutschen Strafjustiz drohen „erhebliche Verzögerungen und Mehraufwand“, teilte die Generalstaatsanwaltschaft (GStA) Celle auf Anfrage von LTO mit. Sie koordiniert die Arbeit der deutschen Generalstaatsanwaltschaften zum Europäischen Haftbefehl. Das genaue Ausmaß hänge davon ab, welche Lösung im deutschen System nach der Entscheidung aus Luxemburg getroffen werde. In jedem Fall bräuchte es aber einen zusätzlichen Schritt, um künftig einen Europäischen Haftbefehl ausstellen zu können. Einzige Alternative: direkt mit dem Erlass des nationalen Untersuchungshaftbefehls durch den Richter würde bereits ein Europäischer Haftbefehl mitbeantragt.

„Fraglich ist auch, welcher Richter einen EuHB ausstellen sollte, der Amtsrichter, der Richter, der den nationalen Haftbefehl ausstellt, das erkennende Gericht, die Strafvollstreckungskammer oder das Gericht, bei dem die Sache anhängig ist. Hierzu bedarf es letztlich einer gesetzlichen Regelung zur näheren Ausgestaltung.“

Und welches Schicksal ereilt die gut 5.600 europäischen Haftbefehle deutscher Staatsanwaltschaften, die in der Welt sind? Nach Einschätzung der GStA Celle dürften nach der Entscheidung des EuGH  sämtliche EuHB erneut ausgestellt werden müssen.

Richterverbände fordern eine Reform des GVG

Der Deutsche Richterbund nimmt die EuGH-Entscheidung einmal mehr zum Anlass, sich für die Abschaffung der Weisungsbefugnis der Justizminister an die Staatsanwälte stark zu machen. „Das Weisungsrecht der Justizminister an die Staatsanwaltschaften im Einzelfall muss umgehend aufgehoben werden“, sagte der Vorsitzende des DRB, Jens Gnisa, am Montag in Berlin. Er forderte den Gesetzgeber auf, das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) zu reformieren.

Auch Carsten Löbbert, Sprecher des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung, fordert zu einer Reform der Strukturen auf. „Der EuGH hat klar formuliert, dass eine Weisungsgebundenheit, wie sie § 146 GVG festgelegt ist, nicht zu der Formulierung „ausstellende Justizbehörde“ im Rahmenbeschluss passt.“ Die Luxemburger Richter hätten weiter formuliert, das Bedeutung und Tragweiter dieses Begriffes in der EU einheitlich verstanden werden müssten. „Diesen Standard erfüllt Deutschland nicht“, so Löbbert. „Die deutsche Justiz sollte sich ihren organisatorischen Lebenslügen stellen.“

Ein Luxemburger Urteil zwischen Strenge und Zurückhaltung

Es hätte übrigens noch schlimmer kommen können für den Europäischen Haftbefehl. Die Entscheidung des EuGH ist stark zugeschnitten auf das deutsche System, ganz grundsätzliche Zweifel am Gesamt-System des Europäischen Haftbefehls haben die Richter aber nicht. An den Strukturen um den litauischen Generalstaatsanwalt hatte der EuGH für die Ausstellung von EuHB nichts auszusetzen, auch dessen Unabhängigkeit war Vorlagefrage in dem Verfahren. Anders als die deutsche Staatsanwaltschaft soll der litauische Generalstaatsanwalt weiterhin unter den Begriff der „Justizbehörde“ nach Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses fallen.

Hatte der Generalanwalt seine Schlussanträge noch mit den Worten begonnen, er habe auf eine „geeignete Gelegenheit gewartet“, um allgemeine Aussagen zur Unabhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaft zu treffen, zeigt das Urteil der Großen Kammer – wenig überraschend – deutlich mehr Zurückhaltung. Die Richter gehen in ihrer Begründung sehr ausführlich noch einmal auf die Argumentation der Bundesregierung ein und stellen die vorgetragenen Sicherungen bei der Anfertigung des Haftbefehls dar. Im Ergebnis aber, so der EuGH, reiche das alles eben nicht aus, um jede Gefahr der Einflussnahme zu beseitigen. Am Ende sieht die Große Kammer das Problem doch angelegt im Organisationsgefüge der deutschen Strafjustiz. Zugleich steigen die Richter aber nicht in die Grundsatzdebatte zur Unabhängigkeit der deutschen Justiz ein.

Vielleicht ist die Entscheidung auch ein erster Hinweis darauf, wie die Richter mit dem Versuch umgehen werden, sie zu Aussagen in dieser Frage zu bewegen. Als einen solchen gezielten Versuch kann man die Vorlage eines Verwaltungsrichters am VG Wiesbaden verstehen. Er hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob er eigentlich an einem unabhängigen Gericht arbeite – sein Beschluss machte deutlich, dass der VG-Richter eher vom Gegenteil ausgeht.

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