Am Mittwoch verhinderte die britische Notenbank mit einer spektakulären Notoperation offenbar einen Finanzkollaps in der City – vorerst jedenfalls. Mehrere Pensionsfonds standen kurz vor dem Zusammenbruch. Eine Rekonstruktion.
Die Warnung klang sachlich, war in ihrer Dringlichkeit aber kaum zu unterschätzen: Die britische Notenbank verfolge die Entwicklung an den Finanzmärkten angesichts der „erheblichen Neubewertung“ von britischen Finanzanlagen sehr genau, begann die Mitteilung der Währungshüter am Mittwoch. Sollten sich die „Störungen“ auf diesem Markt fortsetzen oder verschlimmern, „bestünde ein erhebliches Risiko für die Finanzstabilität des Vereinigten Königreichs“. Um die „Funktionstüchtigkeit der Märkte wiederherzustellen“, werde die Bank massiv lang laufende britische Staatsanleihen aufkaufen.
Viel mehr Dramatik ist in der sonst nüchternen Sprache der Notenbanker kaum möglich.
Der Kursverfall des britischen Pfunds und der britischen Staatsanleihen, deren Renditen am Mittwoch auf ein Rekordniveau von zwischenzeitlich mehr als fünf Prozent emporgeschossen waren, hatte zu erheblichen Verwerfungen in der Londoner Finanzwelt geführt. Offenbar war im Laufe des Tages das gesamte Rentensystem der Insel ins Wanken geraten, mehrere Pensionsfonds standen vor dem akuten Zusammenbruch. „Ich dachte, dies ist der Anfang vom Ende“, zitierte die „Financial Times“ einen erfahrenen Londoner Banker. Es habe nach einem dramatischen Kursverfall am Mittwochmorgen schlicht keine Käufer für britische Staatsanleihen mit langer Laufzeit mehr gegeben. „Es war nicht ganz ein Lehman-Moment. Aber es war nahe dran.“
Nur durch das Eingreifen der ehrwürdigen Bank of England konnte Schlimmeres verhindert werden.
Absicherungsstrategien drohten zu versagen
Der Markt für britische Staatsanleihen wird dominiert von großen Pensionsfonds, die vor allem als Käufer der langfristigen Papiere („gilts“) auftreten. Die Turbulenzen trafen sie nun offenbar unvorbereitet. Langfristig sind niedrigere Kurse und höhere Renditen bei Anleihen gut für die Pensionsfonds. Denn sie helfen ihnen, die notwendigen Erträge für die Rentner zu erzielen. Mit Absicherungsstrategien versuchen sie, sich vor Inflations- und Zinsrisiken zu schützen. In normalen Zeiten, wenn die Gilt-Renditen – also die Zinssätze, die auf Staatsanleihen gezahlt werden – steigen, müssen die Fonds unter Umständen einige ihrer Vermögenswerte verkaufen, um alles im Gleichgewicht zu halten. Behutsam und in geordneten Bahnen. Doch angesichts der jüngsten Rendite-Rallye bei Staatsanleihen drohten die Hedging-Strategien komplett zu versagen – und verschärften die Lage nur noch.
„Ohne Intervention hätten 90 Prozent der britischen Pensionsfonds keine Sicherheiten mehr gehabt, sie wären vernichtet worden““
Kerrin Rosenberg, Geschäftsführer von Cardano Investment
Bei kurzfristig rasant steigenden Risikoaufschlägen wie in den vergangenen Tagen müssen abgesicherte Positionen mit zusätzlichen Sicherheiten unterlegt werden. Das zwang britische Pensionsfonds am Mittwoch offensichtlich dazu, Vermögenswerte hastig zu verkaufen, um liquide zu bleiben und um ihre Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Dabei mussten sie sich auch von weiteren Anleihen trennen, was die Abwärtsspirale noch beschleunigte, wie die „Financial Times“ und Bloomberg in einer Reihe von Artikeln analysieren. Es drohte plöztlich die Implosion des Systems.
Pläne der neuen Regierung zwangen Notenbank zum Not-Eingriff
Ausgelöst hatte die dramatische Entwicklung am Anleihen- und Devisenmarkt die neue britische Regierung unter der konservativen Premierministerin Liz Truss (47). Am Freitag, fünf Tage zuvor, hatte die Regierung ein milliardenschweres Bündel an Maßnahmen angekündigt, mit dem sie die hohe Inflation bekämpfen und die britische Wirtschaft ankurbeln wollte. Schatzmeister Kwasi Kwarteng (47) kündigte sowohl höhere Staatsausgaben als auch Steuersenkungen an – um den Preis einer zugleich rasant steigenden Staatsverschuldung. Auf Nachfrage schob Karteng nach, die Reaktion an den Finanzmärkten sei ihm herzlich egal: Der Markt möge reagieren, wie er wolle.
Und das tat der Markt dann auch. Bereits zu Beginn der Woche sank das Pfund auf ein neues All-Zeit-Tief, die Kurse der Staatsanleihen fielen. Schon am Montag sei klar geworden, dass man sich in einem „sehr ungeordneten Markt“ bewege, sagte Simon Pilcher, der Chef des 80 Milliarden Pfund schweren Fonds Universities Superannuation Scheme (USS), der die Altersvermögen von 500.000 Mitgliedern verwaltet. „Ein solches Ausmaß an Volatilität haben wir mindestens seit 35 Jahren nicht gesehen.“
Bis zum Mittwoch verschärfte sich die Lage. „Die Bewegungen bei den Renditen am langen Ende waren geradezu unglaublich. Der Gilt-Markt befand sich im freien Fall“, skizzierte Daniela Russell, Zinsstrategin bei der Großbank HSBC, die dramatische Entwicklung seit Wochenbeginn. Britsche Pensionsfonds erhöhten in ihrer Not den Druck auf die Notebank, zu intervenieren.
Die Bank of England startete ein 65-Milliarden-Pfund schweres Notfallprogramm. Jeden Tag will sie nun 5 Milliarden Pfund in den Anleihemarkt pumpen, 13 Werktage lang. Es war eine Notoperation im Stile der berühmten „Whatever it takes“-Aktion, mit der der damalige EZB-Präsident Mario Draghi (75) die Märkte auf dem Höhepunkt Eurokrise zu beruhigen versuchte. Und tatsächlich erholten sich die Märkte für britische Staatsanleihen nach der Ankündigung der Notenbank deutlich. Das Pfund legte gegenüber anderen Währungen wie dem Dollar wieder zu.
„Wenn heute nicht eingegriffen worden wäre, hätten die Renditen auf sieben bis 8 Prozent steigen können. In dieser Situation hätten rund 90 Prozent der britischen Pensionsfonds keine Sicherheiten mehr gehabt“, sagte Kerrin Rosenberg, Geschäftsführer von Cardano Investment . „Sie wären vernichtet worden.“
„Die Bewegungen bei den Renditen am langen Ende waren geradezu unglaublich“
Daniela Russell, Zinsstrategin bei HSBC
Einzelne Experten erklärten, dass es sich nicht um eine selbst verschuldete Krise britischer Pensionsfonds und damit des britischen Rentensystems handelte. „Dies ist ein reines Liquiditätsproblem – die Pensionsfonds sind solvent“, betonte Jim Leaviss, Chief Investment Officer bei M&G Investments, gegenüber Bloomberg. Seiner Meinung nach intervenierte die Bank of England aus „Angst, dass dies zu einem systemischen Problem werden könnte“. Die Verantwortung sieht er klar bei der neuen britischen Regierung. Das Vertrauen ist nur wenige Wochen nach dem Amtsantritt verspielt. Am Finanzplatz London wird nach dem Not-Eingriff der Notenbank die Frage diskutiert, ob Kwarteng als britischer Schatzmeister noch zu halten sei; auch Truss ist angeschlagen.
Der Vorfall sei „völlig beispiellos“. Derlei Maßnahmen seien in der Vergangenheit während der Finanzkrise oder der Corona-Pandemie ergriffen worden – aber noch nie, „um die Auswirkungen der Haushaltspläne der eigenen Regierung zu begrenzen“, sagte der deutsch-britische Ökonom Andrew Lee von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Karlsruhe.
Pensionsfonds gewinnen Zeit, doch die Krise ist nicht beendet
Der Eingriff der Zentralbank dürfte den Pensionsfonds nun vor allem Zeit verschaffen, ihre Sicherheiten in einer geordneten Weise und mit weniger Druck aufzustocken, erklärten einige Analysten den Berichten zufolge. Die Rentenaufsichtsbehörde begrüßte die Intervention der Notenbank, forderte die Treuhänder von Pensionsplänen aber zugleich auf, die Widerstandsfähigkeit und Liquidität ihrer Investitionen sowie ihres Risikomanagements zu überprüfen.
Die Krise des britischen Pfundes und die Turbulenzen um britische Staatsanleihen sind mit der zeitlich begrenzten Intervention jedoch nicht dauerhaft beseitigt. Mit dem Kaufprogramm steigen die Inflationsrisiken in Großbritannien weiter – und zwar in erheblichem Ausmaß. Diese Risiken würden nur dann kleiner, wenn die Regierung ihren Kurs bei den Steuersenkungsplänen ändere, sagte Mike Riddell, ein Anleiheportfolio-Manager bei Allianz Global Investors. Danach sieht es derzeit jedoch nicht aus.
Der Anlagestratege zeigte sich zugleich skeptisch: Eben noch habe die Notenbank dem Markt gesagt, dass sie eine sehr restriktive Haltung einnehmen würde, und heute kaufe sie wieder Staatsanleihen. „Was zunächst als vorübergehend angesehen wird, kann sich als dauerhaft erweisen.“ Sollte dies der Fall sein, werde das britische Pfund noch in ganz andere Schwierigkeiten geraten.
rei