Seit Jahren klagt die Wirtschaft über Fachkräftemangel, auf der anderen Seite steigen derzeit die Arbeitslosenzahlen auf lange nicht gekannte Höhen. Wie passt das zusammen? Was Betroffene und Recruiter sagen.
Uwe Köhler ist 52, als er zum ersten Mal in seinem Leben beim Arbeitsamt vorstellig werden muss. Ein knappes Jahr ist das her. „Das war wirklich kein leichter Tag, mein Selbstwert war völlig im Eimer“, erinnert er sich. Zehn Jahre lang war er vor seiner Kündigung im Frühjahr 2023 in einer Führungsposition bei einem Fitnessbetrieb tätig gewesen. Und er ist eine Fachkraft, daran besteht kein Zweifel: Er hat eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert, Sport und BWL studiert, zudem 20 Jahre Berufserfahrung in der Fitnessbranche. Goutiert auf dem Arbeitsmarkt, muss er schmerzlich merken, wird das jedoch nicht.
Zehn Bewerbungen schickt Köhler ab, nur drei Mal wird er zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Jedes Mal sei der Tenor derselbe gewesen, sagt er: „Sie haben ja wirklich viele Qualifikationen und auch Erfahrung. Aber ist Ihnen klar, dass ihre Kollegen und Mitarbeiter hier wesentlich jünger wären?“
Altersdiskriminierung? Aussprechen will er selbst das so nicht. Aber: „Ich habe mich beworben auf Stellen, die ich vorher schon innehatte. Und ich bin jetzt qualitativ mit Sicherheit nicht schlecht aufgestellt“, sagt er. Es gebe „genügend Fachkräfte auf dem Markt in allen Sparten“, aber „zu wenige Unternehmen, die bereit sind, dafür gutes Geld zu bezahlen“, ist er überzeugt. Und allzu oft würden Bewerber aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt. Eben etwa aus Altersgründen.
Hohes Alter vermittlungshemmend
Seit Jahren schon klagt die deutsche Wirtschaft über Fachkräftemangel. Und erst vor wenigen Wochen benannte Bundeskanzler Olaf Scholz einmal mehr die „Arbeiterlosigkeit“ als die „größte Herausforderung, vor der wir stehen“. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit hierzulande zuletzt so stark angestiegen wie seit 2015 nicht mehr: rund 2,8 Millionen Menschen waren im Juli arbeitslos, 82.000 mehr als im Vormonat und 192.000 mehr als im Vorjahr. Und neue Jobs werden immer seltener ausgeschrieben: 703.000 offene Stellen sind bei der Bundesagentur für Arbeit im Juli 2024 gemeldet worden, 69.000 Stellen weniger als im Juli 2023, ein Minus von neun Prozent. Wie passt das zusammen?
Eine Erklärung, die die Bundesagentur für Arbeit in einem Bericht vom April 2024 vorbringt: Der Arbeitsmarktausgleich werde „durch einen erheblichen Mismatch erschwert“. Gemeint ist damit, dass die Anforderungsprofile auf Arbeitgeberseite nicht den Angebotsprofilen auf Arbeitnehmerseite entsprechen. So suche etwa über die Hälfte der Arbeitslosen eine Beschäftigung auf Helferniveau. Jedoch richteten sich fast 80 Prozent der gemeldeten Stellen an Fachleute.
Aber, vermutlich noch viel entscheidender: Es gibt da eben auch sogenannte „vermittlungshemmende Merkmale“. Keine Berufsausbildung zu haben etwa erschwert den Wiedereinstieg in den Beruf, Langzeitarbeitslosigkeit ebenfalls – das Henne-Ei-Problem. Und, damit zurück zum Fall Uwe Köhler: Als „vermittlungshemmend“ gilt tatsächlich auch ein höheres Lebensalter.
Ältere hätten zwar „ein niedrigeres Risiko, aus Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt heraus arbeitslos zu werden“, aber auch „deutlich geringere Chancen, eine einmal eingetretene Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung wieder zu beenden“, heißt es in dem Bericht der Bundesagentur für Arbeit aus dem April. Im vergangenen Jahr war demnach fast jeder vierte arbeitslos gemeldete Mensch in Deutschland mindestens 55 Jahre alt.
Das Alarmierende: Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen wieder in einen Job zurückfinden, die sogenannte „rechnerische Abgangschance“, lag mit 2,96 Prozent nur bei etwa der Hälfte des Durchschnitts über alle Altersklassen. Menschen, die das 55. Lebensjahr erreicht oder überschritten hätten, haben laut Bundesagentur für Arbeit „besonders hohe Risiken langzeitarbeitslos zu werden und zu bleiben“. Womit das erste sogenannte „Vermittlungshemmnis“ zum zweiten führt – ein Teufelskreis.
Neue, alte Vorbehalte
Katharina Engfer betreibt seit sieben Jahren eine Personalberatung in Köln, ist zudem auch als Recruiterin für Unternehmen tätig. Sie bekomme in ihrem Job „live mit, woran es liegt, dass Positionen nicht besetzt werden und man immer über diesen Fachkräftemangel klagt, den ich in meiner beratenden Tätigkeit gar nicht unbedingt feststellen kann“, sagt sie. Einen Kandidaten, der älter als 50 ist, als Recruiter überhaupt vorzuschlagen, sei schwierig: Es gebe viele Unternehmen, die älteres Personal „einfach kategorisch ausschließen“. „Wir hören ganz oft: Bitte keinen Kandidaten über 50.“
Aber nicht allein das Alter sei ein häufiger Grund, warum es arbeitssuchende Fachkräfte trotz guter Qualifikationen schwer hätten: „Wer einmal arbeitslos ist, hat ein Stigma. Es wird immer schwieriger, wieder reinzukommen“, sagt Engfer auch. „Du hast einfach einen Stempel, du bist arbeitslos, das ist deine Schuld.“
Während der Coronapandemie habe es kurzzeitig so gewirkt, als sei der Arbeitnehmermarkt stärker geworden, erinnert sich die Personalerin: „Auf einmal waren Menschen mit dem Thema Arbeitslosigkeit konfrontiert, die es nie zuvor waren und die auch nie darüber nachgedacht hatten. Die Akzeptanz von Unternehmen, Menschen einzustellen, die jetzt gerade keinen Job haben oder ihn in zwei, drei Monaten verlieren würden, war deshalb kurzzeitig vorhanden.“ Inzwischen aber seien die Vorbehalte auf Seiten der Arbeitgeber wieder ganz dieselben wie vor der Pandemie. Und die hätten ganz viel mit „relativ deutschen Eigenschaften“ zu tun, bedauert Engfer: „Misstrauen und Vorverurteilung“.
Diese Vorverurteilung kennt auch Louisa Seel gut. Dabei ist sie erst 25. Altersdiskriminierung kann in ihrem Fall also keine Rolle spielen. Und sie hat auch Lust zu arbeiten, sehr sogar: „Ich definiere mich ganz stark über meinen Beruf, für mich ist Arbeiten superwichtig“, sagt sie. „Ich könnte auch nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen und nichts tun, da fände ich keine Erfüllung drin.“
2021 schließt die Gummersbacherin eine Ausbildung zur Bürokauffrau ab, wird anschließend übernommen. Dann wird ihr Ausbildungsbetrieb umstrukturiert, sie wird gekündigt. „Das war der erste Knacks in meiner Karriere“, erinnert sie sich. Bis heute ist er ein Makel, den potenzielle Arbeitgeber an ihrem Lebenslauf kritisieren. Zuletzt war sie als Assistentin der Geschäftsleitung bei einem Start-up tätig, das Ende Juni in die Insolvenz ging. „Und jetzt bin ich wieder arbeitslos. Man ist eigentlich nur verzweifelt, denn man möchte ja arbeiten.“
100 Bewerbungen, 100 Absagen
Mehr als 100 Bewerbungen habe sie abgeschickt, seitdem absehbar gewesen sei, dass ihre letzte Tätigkeit enden würde, zuletzt seien es vier, fünf Bewerbungen am Tag gewesen. Die Rückmeldungen: Allesamt Absagen, meist ohne Begründung. „Was mich besonders gewundert hat: Dass ich selbst bei Tätigkeiten in meinem kaufmännischen Bereich nicht mehr eingeladen worden bin“, sagt sie. „Das hat mich verdutzt, denn ich habe ja jetzt auch schon gut drei Jahre Berufserfahrung in diesem Bereich. Dennoch habe ich nur Absagen bekommen. Wie kann das sein?“
Als Seel vor wenigen Wochen einen LinkedIn-Beitrag teilt, in dem sie ihre aktuelle Situation beschreibt, erreichen sie viele private Nachrichten, in denen sie andere davor warnen, sich selbst als „arbeitslos“ zu bezeichnen. Eine Nachricht habe sie dabei besonders geärgert, sagt sie: Ein Bekannter habe ihr „fünf, sechs Wörter vorgeschlagen, die ich doch statt ‚arbeitslos‘ benutzen solle, weil das für zukünftige Arbeitgeber attraktiver wäre“.
Seel aber entschloss sich demonstrativ dafür, genau diesen stigmatisierten Begriff zu verwenden: „Ich leide schon lange unter diesem Druck, dass es immer heißt: Deine Laufbahn muss makellos sein, immer geradlinig sein, da darf bloß keine Lücke im Lebenslauf vorkommen“, begründet sie das. Es sei einfach „sehr schade, dass so viele Arbeitgeber sich die Chance auf gute Mitarbeiter versagen, nur weil ihr Lebenslauf vielleicht kein geradliniger ist“.
Recruiterin Katharina Engfer sieht das ähnlich: Es werde „ein Fachkräftemangel beklagt, den es an vielen Stellen gar nicht gibt“, sagt sie. „Oft heißt es, wir bräuchten die Fachkräfte aus dem Ausland. Dabei gibt es sie hier schon, aber sie werden nicht gesehen und nicht eingestellt.“ Engfer würde sich „weniger Vorurteile im Recruiting wünschen, mehr Möglichkeiten in Unternehmen offen zu sein, ein vermeintliches Risiko auch mal einzugehen“, sagt sie.
Uwe Köhler hat die vergebliche Suche nach einer Anstellung inzwischen eingestellt. Er ist jetzt selbstständig und berät als Coach selbst Menschen, die arbeitslos geworden sind. „Ich bin jetzt glücklicher, als ich das in meinem vorherigen Job war“, gibt er sich optimistisch. Am Ende sei die schwierige Jobsuche im vergangenen Jahr deshalb vielleicht ein Segen gewesen, eine „Befreiung“ gar.