Der Internationale Währungsfonds senkt seine Wachstumsprognose für Deutschland erneut. Ferner prophezeien die Ökonomen, dass sich die Weltwirtschaft in den nächsten Jahren insgesamt „mau“ entwickeln werde. Vor allem drei Punkte müssten nun von Politik und Notenbanken angegangen werden.
Christian Lindner (FDP) kennt es nicht anders, seit er Finanzminister ist. Auch in den nächsten Tagen wird er wieder unbequeme Fragen zum schwachen deutschen Wirtschaftswachstum beantworten müssen, wenn er sich mit seinen Amtskollegen und Notenbankchefs zur Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) trifft – so wie schon 2022 und 2023.
Auch in diesem Jahr nehmen die Experten der Organisation zur Förderung der weltweiten Finanzstabilität ihre ohnehin geringen Wachstumserwartungen der deutschen Volkswirtschaft zu Beginn der Herbsttagung zurück. Sie senken ihre Prognose für das kommende Jahr gegenüber dem Juli-Ausblick deutlich: Statt 1,3 Prozent trauen sie Deutschland lediglich noch ein Plus von 0,8 Prozent zu – ein Rückgang um einen halben Prozentpunkt. Für kein anderes der großen Industrieländer korrigierten sie den Wert innerhalb von drei Monaten so stark nach unten.
Die Bundesregierung hatte in ihrer Herbstprognose im September für das vermeintliche Jahr der nächsten Bundestagswahl immerhin ein Plus von 1,1 Prozent in Aussicht gestellt. Dafür kündigte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für 2024 das zweite Rezessionsjahr in Folge an, mit einem Minus von 0,2 Prozent. So tief gehen die IWF-Ökonomen nicht. Sie rechnen für dieses Jahr aktuell mit einem Null-Wachstum. Wobei die Zahl 0,0 nichts daran ändert, dass Deutschland auch auf der Prognoseliste für 2024 Schlusslicht unter den großen Wirtschaftsnationen ist.
Die IWF-Ökonomen begründen ihren pessimistischen Blick im World Economic Outlook mit der „anhaltenden Schwäche des verarbeitenden Gewerbes“. Auf der Habenseite stünden, genauso wie für andere Länder Europas, die höheren Lohnabschlüsse und sinkenden Zinsen. Dies könne zu einer stärkeren Konsumnachfrage führen. Die Europäische Zentralbank hatte in der Vorwoche zum dritten Mal seit Sommer den Leitzins gesenkt.
In Deutschland lahmt die Wirtschaftsentwicklung zwar besonders. Aber es ist keinesfalls so, dass im Rest Europas Wachstumssprünge erwartet werden. Von den vier großen Volkswirtschaften des Kontinents liegt Spanien mit plus 2,1 Prozent vorne. Etwas besser sieht es in anderen Weltregionen aus, etwa in Indien (6,5 Prozent) und China (4,5 Prozent). Das Bruttoinlandsprodukt der Vereinigten Staaten soll sich statt um 1,9 Prozent um 2,2 Prozent erhöhen – immerhin.
Insgesamt geht der Internationale Währungsfonds davon aus, dass die Weltwirtschaft vor schwierigen Jahren steht. „Trotz der guten Nachrichten zur Inflation nehmen die Abwärtsrisiken zu und dominieren nun die Aussichten“, kommentierte IWF-Chefvolkswirt Pierre-Olivier Gourinchas den Ausblick. Eine Eskalation regionaler Konflikte, insbesondere im Nahen Osten, könne die Rohstoffmärkte belasten, ein Wechsel zu unerwünschten handels- und industriepolitischen Maßnahmen auf die Produktion drücken, die Notenbanken zu lange die Zinsen oben lassen, beschreibt er die größten Risiken.
„Leider sind die Wachstumsaussichten für die nächsten fünf Jahre mit 3,1 Prozent so gering wie seit Jahrzehnten nicht mehr“, schreibt Gourinchas. Der Wert für das weltweite Wirtschaftswachstum wurde für 2025 leicht auf 3,2 Prozent von zuvor 3,3 Prozent gesenkt. In der Vorwoche hatte bereits IWF-Chefin Kristalina Georgiewa von einer mauen Phase gesprochen, vor der die Weltwirtschaft steht. Das Wachstum werde nicht ausreichen, um Armut zu bekämpfen und genügend neue Jobs zu schaffen.
Große Hoffnung verbindet der IWF mit künstlicher Intelligenz (KI). „IWF-Untersuchungen zeigen, dass KI – wenn richtig eingesetzt – ein Potenzial hat, das globale Wachstum um bis zu 0,8 Prozentpunkte zu erhöhen“, sagte Georgiewa. Um die Entwicklung in geordnete Bahnen zu lenken, seien deshalb gemeinsame regulatorische und ethische Standards wichtig, appellierte sie an die 191 Mitgliedsländer des IWF.
Ökonomen fordern mehr finanzielle Puffer und weniger Schulden
Kurzfristig sieht Chef-Volkswirt Gourinchas vor allem drei Aufgaben, die angegangen werden müssten, um nach den Krisen zu Beginn des Jahrzehnts zumindest eine „dringend benötigte wirtschaftliche Atempause“ zu haben. Erstens müssten die Notenbanken den bereits begonnenen Zinssenkungszyklus fortsetzen, gerade jetzt, da die Arbeitsmärkte „vieler fortgeschrittener Volkswirtschaften Anzeichen einer Abkühlung und steigende Arbeitslosenquoten zeigen“, wie er sagte.
Der zweite Dreh- und Angelpunkt ist seiner Sicht nach die Finanzpolitik. „Nach Jahren einer lockeren Finanzpolitik in vielen Ländern ist es nun an der Zeit, die Schuldendynamik zu stabilisieren und die dringend benötigten fiskalischen Puffer wieder aufzubauen“, schreibt Gourinchas. Die Senkung der Leitzinsen bringe zwar eine gewisse Entlastung in den Budgets der Staaten, da die Finanzierungskosten der Schulden zurückgingen. Doch dies werde nicht reichen.
Der dritte und laut IWF schwierigste Schritt ist die Umsetzung wachstumsfördernder Reformen. Es müsse viel mehr getan werden, um die Wachstumsaussichten zu verbessern und die Produktivität zu steigern. Anders seien die großen Herausforderungen wie Alterung der Gesellschaft, Bewältigung des Klimawandels und Verbesserung der Lebensbedingungen der Schwächsten nicht zu bewältigen.
Finanzminister Lindner wird Ende der Woche mit einem gut gefüllten Hausaufgabenheft von Washington zurück nach Berlin reisen. Aber auch das kennt er nicht anders.
Karsten Seibel ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet unter anderem über Haushalts- und Steuerpolitik.