Die Berliner Rockband Rammstein hat das Video zu ihrer neuen Single »Zeit« veröffentlicht, eine elegische Meditation über die Vergänglichkeit – mit Bildern von Soldaten und Kindern, die vom Tod geholt werden.
Selbstverständlich muss ein Countdown eine Minute lang mit digitalen Ziffern herunterzählen, als »Zeit« am Donnerstag um 17 Uhr auf YouTube Premiere hatte. Song und Video sind das erste neue Material der Berliner Rockband seit 2019, ein neues Album mit dem gleichen Titel soll am 29. April folgen. In dem Clip, gedreht von Schauspieler und Musiker Robert Gwisdek, findet die für ihre martialischen, oft provokanten Inszenierungen berüchtigte Band um Sänger Till Lindemann erneut wuchtige, elegisch inszenierte Bilder, um das Thema des Songs zu illustrieren. In »Zeit« geht es um Vergänglichkeit, die Unmöglichkeit, dem Tod zu entrinnen, das Klammern an den Moment, der nicht vergehen möge.
Zu Beginn sieht man die Bandmitglieder ertrinkend unter Wasser, während sich eine Wasserpflanze oder ein Seil durchs trübe Meeresgrün an ihnen vorbei zum Licht rankt. Der Film läuft rückwärts; bald sind die Musiker Insassen eines Rettungsboots, das in stürmischer See kentert, konfrontiert mit einer aufragenden Gestalt im langen schwarzen Gewand, deren Gesicht unter einer Kapuze hell irrlichtert: Gevatter Tod.
Die Szenerie, immer noch rückwärts laufend, wechselt zu Soldaten und Partisanen in einem Wald, die sich ein Gefecht liefern, die Farben sind getönt und erdig, die Uniformen erinnern an den Zweiten Weltkrieg, an Scharmützel im U-Bootkrieg oder in Osteuropa. Mit dem Krieg in der Ukraine vor Augen kann man sich kaum zeitgeistigere Bilder aus der Popkultur vorstellen. »Zeit/ Bitte, bleib stеhen, bleib stehen/ Zeit/ Es soll immer so weitergehen«, singt Lindemann mit dramatischem Vortrag. »Doch die Zeit kennt kein Erbarmen/ Schon ist der Moment vorbei.«
Verstörender Grusel
In politisch weniger aufgewühlten Zeiten könnte man den für Rammstein-Verhältnisse eher balladesken Song als allgemeines Requiem lesen, vielleicht sogar als persönliche Abschiedshymne. Schon beim letzten, unbetitelten Album kursierten Gerüchte, die Gruppe würde sich möglicherweise bald auflösen. Im Licht der Ereignisse jedoch bekommen die Bilder von den Soldaten eine andere, dringlichere Bedeutung, die wohl kaum intendiert gewesen sein kann, dafür sind die Produktionsprozesse eines so aufwändigen Videos dann doch zu lang.
Wenn am Ende ein Farmer mit Strohhut in warmen Herbstfarben seine kleine Tochter der unheimlichen Todesgestalt entgegenlaufen sieht – und sie nicht aufhalten kann, dann erzeugen der aufwallende Pathos-Bombast der Musik und der Bilder von der Verzweiflung des Vaters, als er in goldenen Ähren auf die Knie fällt, jenen verstörenden Grusel, den Rammstein immer wieder mit ihren Videos auslösen, zuletzt in der mit KZ-Häftlingen empörenden Heimat-Phantasmagorie »Deutschland«.
Deren Wucht entfaltet »Zeit« jedoch bei weitem nicht. Schockbilder gibt es in der Mitte des Clips natürlich trotzdem, schön schwarz-weiß im Stil des deutschen Kino-Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts: Frisch gebärende Mütter mit verbundenen Augen liegen im Kreis um eine riesige, aufwärts strömenden Sandsäule der Zeit – und Rammstein leisten Geburtshilfe.
Binnen einer Stunde wurde das Video auf YouTube bereits 100.000 Mal angeklickt, vielleicht auch in Russland, wo Rammstein zahlreiche glühende Fans haben und in der Vergangenheit oft Konzerte vor Tausenden Zuschauern spielten. Zwei für Ende des Jahres geplante Solo-Auftritte hat Sänger Lindemann allerdings kürzlich wegen des Einmarschs der russischen Armee in der Ukraine abgesagt. In den letzten Tagen unterstützte er die Helfer am Berliner Hauptbahnhof bei der Betreuung der ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine. Dabei sang er noch vor einigen Monaten das russische Heldenlied »Lubimiy Gorod« (»Geliebte Stadt«) bei einem von der Regierung veranstalteten Militärmusikfestival auf dem Roten Platz in Moskau.
Doch entgegen ihrer über lange Jahre gepflegten Haltung, sich politisch enervierend uneindeutig zu geben, haben Rammstein sich auf ihrer Website auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch klar zum Krieg positioniert: »Rammstein möchten ihre Unterstützung für das ukrainische Volk zum Ausdruck bringen, das sich gegen den schockierenden Angriff der russischen Regierung wehrt. Wir empfinden in diesem Moment besonders Trauer über das Leid der Ukrainer. Jedes Mitglied der Band hat unterschiedliche Erfahrungen mit den beiden Ländern; alle Musiker haben Freunde, Kollegen, Partner und Fans in der Ukraine und in Russland«, schrieb die Band bereits am 4. März. »Uns ist die Verzweiflung bewusst, die viele russische Fans angesichts der Handlungen ihrer Regierung empfinden, und wir möchten an die Menschlichkeit erinnern, die russische und ukrainische Bürger teilen.«
Auf die Unbestechlichkeit der Zeit und den großen Gleichmacher Tod können sich zurzeit wohl alle einigen. Auch für diese immer unbequeme Band bleibt die Zeit nicht stehen: So wenig polarisiert wie heute haben Rammstein wohl noch nie.