Interview

«Das ist ein kommunikatives Desaster»: Virologe Hendrik Streeck über die RKI-Files, fehlende Corona-Aufarbeitung und Karl Lauterbach

29.03.2024
Lesedauer: 4 Minuten
Der Virologe Hendrik Streeck. Bildquelle:

Die lange unter Verschluss gehaltenen Dokumente des Robert-Koch-Instituts haben viele Fragen aufgeworfen. Mit der NZZ spricht der Mediziner Hendrik Streeck über die «RKI-Files», seinen Rivalen Christian Drosten und darüber, was für die nächste Krise wichtig ist.

Herr Streeck, die Veröffentlichung der Corona-Protokolle des Krisenstabs vom Robert-Koch-Institut hat ein Jahr nach dem Auslaufen der Pandemie für eine neue Debatte gesorgt. Sind die Schwärzungen in den Protokollen Geheimniskrämerei des RKI oder ein nachvollziehbarer Vorgang einer Behörde?

Man muss die Protokolle chronologisch und als ein Zeitdokument betrachten. Die Erkenntnisse von damals waren andere als heute. Es sollte nicht als Dokument gelesen werden, in dem endgültige Entscheidungen getroffen wurden. Das Positive ist doch erst einmal: Die Dokumente zeigen, dass das RKI verschiedene Meinungen und Einschätzungen ergebnisoffen diskutiert hatte. Mit den Schwärzungen hat sich das RKI jedoch keinen Gefallen getan. Es heizt Verschwörungstheorien an. Insgesamt ist es ein kommunikatives Desaster. Minimale Schwärzungen, beispielsweise Mitarbeiter-Namen, hätte jeder nachvollziehen können.

Die veröffentlichten Protokolle fallen in die Amtszeit des ehemaligen CDU-Gesundheitsministers Jens Spahn. Der derzeitige Minister Karl Lauterbach hat nun eine «weitestgehende» Entschwärzung der Corona-Protokolle des RKI gefordert.

Das ist ein guter Schritt. Allerdings hoffe ich, dass Karl Lauterbach das zum Anlass nimmt, auch die Protokolle aus seiner Amtszeit freizugeben, um eine vollumfassende Aufarbeitung zu ermöglichen. Alles andere wäre auch ein bisschen unfair seinem Vorgänger gegenüber.

Zurück zu den Protokollen: Als besonders brisant gilt eine Einstufung Mitte März 2020: Plötzlich ging die Risikoeinschätzung von mässig zu hoch. Was halten Sie davon?

Die genauen Umstände dazu kenne ich nicht, allerdings war das ein Zeitpunkt, an dem die WHO bereits die pandemische Notlage ausgerufen hatte. Die Entscheidung mag damals also sinnvoll gewesen sein. Es zeigt aber, dass wir mehr Transparenz brauchen, um zu wissen, wie es zu den Entscheidungen gekommen ist. Ich kann das so aus den Protokollen jedenfalls nicht beurteilen.

Sie sind selbst Wissenschafter und haben sich mit den Protokollen beschäftigt. Wie lautet Ihr Fazit?

Die Protokoll zeigen, dass die Mitarbeiter im RKI in alle Richtungen und offen diskutiert haben. Leider war jedoch die Botschaft, die nach aussen gesendet wurde oftmals sehr eindeutig: «Die Wissenschaft sagt uns». Während Experten im RKI und in der Öffentlichkeit unterschiedliche Auffassungen hatten, vermittelte das RKI, es gäbe nur den einen richtigen Weg. Zudem zeigen die Protokolle die starke Abhängigkeit der Behörde von der Politik. Ich habe in den letzten Jahren mehrfach gefordert, dass es wichtig ist, dass wir ein starkes und vor allem unabhängiges Robert-Koch-Institut brauchen.

Als Behörde ist das RKI dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt. Plädieren Sie für eine Entkopplung?

Ja, das tue ich. Zumindest braucht es mehr Freiräume. Als unabhängiges Institut könnte es freier kommunizieren, unabhängig die Politik beraten und forschen.

Nach den RKI-Files ist plötzlich die Aufarbeitung der Corona-Pandemie, die mit vielen Freiheitseinschränkungen einherging, in aller Munde. Ist es glaubwürdig, wenn Politiker sich nun kritisch äussern?

Es ist schon erstaunlich, dass es erst die Freigabe der RKI-Protokolle brauchte, damit wir darüber reden. Ich habe vor über einem Jahr in mehreren Gastbeiträgen und Interviews immer wieder eine Aufarbeitung angeregt und bin damit nicht durchgekommen. Ich habe dann für mich irgendwann die Schlussfolgerung gezogen, dass eine Aufarbeitung essenziell ist – deswegen habe ich vor einigen Monaten angefangen, ein Buch über die Lehren, die wir aus der Pandemie ziehen können, zu schreiben.

Ihr Vorgänger an der Universität Bonn, der Virologe Christian Drosten, hat die Regierung während der Pandemie als Berater unterstützt. Vor einigen Tagen sagte er: «Aus medizinischer Sicht sind wir gut durch die Pandemie gekommen.» Hat er recht?

Ich weiss nicht, wie er auf diese Aussage kommt. Man kann verschiedene Bewertungsgrundlagen anlegen und sich anschauen, ob ein Land besonders gut oder schlecht durchgekommen ist. Die Sterblichkeitsrate ist so ein Parameter, den man heranziehen kann. Die Analyse zeigen aber, dass Schweden besser durchgekommen ist als Deutschland. Wenn man einfach sagt: Das eine Land hat es gut gemacht, ist das eine sehr eindimensionale Sicht auf die Pandemie und ignoriert die psychischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Das ist also eher eine Verteidigung der eigenen Ansicht.

Was sollte Deutschland für die nächste Pandemie lernen?

Es muss ja nicht gleich eine neue Pandemie sein. Wir können aber für andere Krisen, seien es Krieg oder Naturkatastrophen, lernen. Während Corona spielten das Virus und die Virologen die Hauptrolle, dabei hat Krisenbewältigung nur ganz wenig mit Virologie zu tun. Der Faktor Mensch – wie geht es den Kindern, den Alten, den Schwachen in der Gesellschaft psychisch und physisch–ist zum Teil viel wichtiger.

Zur Person

Professor «Ruhigbleiben»

Der Virologe und Professor der Universität Bonn war eine der wichtigsten Stimmen während der Corona-Pandemie in Deutschland – und wurde oft gescholten. Etwa für die Auffassung, dass eine Infektion im Sommer das Gesundheitssystem im Winter entlasten könnte. Dafür warf man ihm Verharmlosung vor. Dabei lieferte seine Heinsberg-Studie im Jahr 2020 frühzeitige Erkenntnisse über das damals neuartige Coronavirus. Im Kreis Heinsberg entstand im Frühjahr 2020 ein Hotspot mit vielen Infizierten.

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