Als erstes Bundesland hat sich Baden-Württemberg von der Sieben-Tage-Inzidenz als maßgeblichem Corona-Kriterium verabschiedet. Und zeigt: Für Ungeimpfte bedeutet die neue Strategie massive Einschränkungen. Doch nicht nur die sind erzürnt.
Diese Vorschrift kann sich eigentlich nur ein Verwaltungsbeamter ausgedacht haben, der schon sehr lange nicht mehr in einem Club feiern war. Oder der sich für einen besonders gewieften Taktiker hält, weil er auf diese Weise ganz gezielt junge Leute zur Impfung bewegen wollte.
Auf jeden Fall verlangte der seit Wochenstart gültige Corona-Maßnahmenkatalog von Baden-Württemberg in seiner ersten Fassung: Diskotheken, Clubs und ähnliche Orte der vergnüglichen Freizeitgestaltung dürfen zwar wieder landesweit öffnen, aber Gäste müssen stets eine Maske tragen, sogar auf der Tanzfläche. Das Häubchen über Mund und Nase hätte man allenfalls zum Nippen am Gin-Tonic mal kurz lüpfen dürfen. Und das, obwohl Gäste und Beschäftigte, die weder geimpft noch genesen sind, ohnehin nur mit einem negativen PCR-Test Einlass bekommen.
Die Proteste der Club-Betreiber gegen den weltfremden Plan aus dem Ministerium von Sozial- und Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) folgten sogleich. Baden-Württemberg lasse sich als Freiheitsverteidiger feiern, weil es als erstes Bundesland von der Inzidenz abrücke, aber der Blick ins Kleingedruckte zeige, wie falsch dieses Bild sei, schimpfte Colyn Heinze vom Club Kollektiv, der Interessenvertretung der Stuttgarter Szene.
Alexander Scholz vom Club „Perkins Park“ sekundierte mit dem Hinweis, es sei unmöglich, im erhitzten Gewühle nachts um drei noch zuverlässig eine Maskenpflicht durchzusetzen. So viele Ordnungskräfte könne gar niemand beschäftigen. Als logische Folge, so seine Prognose, würden viele Clubs erst gar nicht öffnen und viele potenzielle Gäste lieber privat feiern.
Keine Einschränkungen für private Veranstaltungen
Letzteres liegt in der Tat nahe. Denn für Privatveranstaltungen sieht die neue Corona-Verordnung erstaunlicherweise ab sofort keinerlei Einschränkungen mehr vor – egal ob die 500 oder 800 oder 1000 Teilnehmer der Hochzeit oder Geburtstagsfeier geimpft sind oder nicht.
Es läuft hier und da noch holprig beim ersten Versuch eines Bundeslandes, sich aus dem Joch der Inzidenz zu befreien. Ihr Ziel kann die grün-schwarze Landesregierung zwar eloquent formulieren: Die Inzidenz soll künftig nicht mehr als „ordnungspolitisches Instrument auftauchen“, so der Plan. Damit will die Politik das Versprechen einlösen, dass die Impfung nicht nur schützt vor schweren Krankheitsverläufen, sondern auch ein großes Stück vom normalen Leben zurückbringt.
Ungeimpfte, so sieht es Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), sollen mehr Aufwand betreiben müssen, auch finanziell, in Form selbst bezahlter Tests. Die Liste der Einrichtungen, die von Ungeimpften einen Test verlangt, ist entsprechend lang und schließt fast jeden denkbaren öffentlichen Raum ein, vom Affenhaus im Zoo über den Ausflugsdampfer und die Minigolf-Anlage bis zur Volkshochschule.
Dem Einwand, dass eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft geschaffen werde, begegnet Kretschmann ungerührt: Das sei eben „die selbst gewählte Konsequenz“ aus der Entscheidung, sich nicht immunisieren zu lassen.
Zudem will sich Baden-Württemberg verabschieden vom Flickenteppich regionaler Lösungen – hier Kontaktbeschränkung, fünf Kilometer weiter volle Biergärten, nur weil die Inzidenzen über oder unter einer bestimmten Grenzmarke liegen. Im Ländle sollen stattdessen alle, die geimpft, genesen oder getestet sind, unabhängig von der jeweiligen Inzidenz am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Doch dabei gibt es Ärger, wie nicht nur die Probleme der Clubs zeigen.
Da ist etwa der nun plötzlich notwendige Corona-Test für Ungeimpfte beim Friseur oder im Museum. Bis zum Start der neuen Maßnahmen war dieser dort, wo die Sieben-Tage-Inzidenz im einstelligen Bereich liegt, nicht nötig – nun allerdings schon. Oder die Frage, warum das Sozialministerium seinen Kurs-Schwenk so urplötzlich und ohne Vorankündigung vollzogen hat – und das, obwohl die Maßnahmen offenkundig seit Monaten vorbereitet wurden.
In der Praxis hat das dazu geführt, dass jede Menge Sommerfeste, Vereinspartys, Weinfestchen oder Sportevents abgesagt wurden, die nun, zumindest theoretisch, doch veranstaltet werden dürften.
Theater und Konzerte, Volksfeste oder Sport-Ereignisse sind nämlich ab sofort in Baden-Württemberg unter Vollauslastung möglich, wenn nicht mehr als 5000 Menschen teilnehmen. Bei bis zu 25.000 Besuchern dürfen die zur Verfügung stehenden Plätze immerhin zur Hälfte besetzt werden. Finden die Events im Freien mit weniger als 5000 Menschen statt, und kann der Abstand von 1,50 Metern eingehalten werden, dann ist nicht einmal ein 3G-Nachweis (geimpft, genesen, getestet) nötig.
So manchem städtischen Organisator oder Kulturschaffenden stößt die ad-hoc-Anpassung daher bitter auf. So manches Groß-Event wurde gerade erst vor Kurzem schweren Herzens abgesagt und lässt sich nicht mal eben so auf den Kalender zurückholen. Andere, wie die Stadt Esslingen, haben Corona-konforme Sommerprogramme aufgelegt und fragen sich nun, ob die Mühe zum Hygiene- und Sicherheitskonzept völlig umsonst war.
Wieder andere wollen zudem erst einmal abwarten, weil sie der neuen Freiheit noch nicht über den Weg trauen. Denn auch, wenn die Inzidenz nicht mehr auftaucht: Falls sich „das Ausbruchsgeschehen verstärkt und eine Überlastung des Gesundheitswesens“ droht, behält sich die Regierung „zusätzlich Maßnahmen“ vor, so die Ankündigung.
„Die Veranstalter sind verunsichert“, sagt daher der Sprecher von Leinfelden-Echterdingen. Die Entscheidung über ihr traditionelles Krautfest will die Stadt daher erst in ein paar Wochen treffen.
Ohnehin sind Veranstaltungen im größeren Rahmen für Kommunen wegen der notwendigen Besucherkontrollen immer größere Herausforderungen. Wie soll man bei einem Straßenfest kontrollieren, ob nun 4999 oder 5001 Menschen da sind – und damit andere Auflagen gelten?
Unmut gibt es auch entlang der Landesgrenzen, ganz besonders Richtung Bayern, wo der Inzidenzwert nach wie vor als Grundlage für viele Corona-Maßnahmen gilt. Er halte die Inzidenz nach wie vor „für einen wichtigen Seismografen, einen Frühwarnwert“, betonte der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Die Sieben-Tage-Inzidenz sei der früheste Indikator, um die Infektionsdynamik abzubilden.
Holetschek mahnt daher, einen „Flickenteppich der Parameter in den Ländern“ zu vermeiden. Ähnlich sieht das Katrin Albsteiger (CSU), Oberbürgermeisterin von Neu-Ulm. Bei ihr in Bayern gelten andere Vorgaben als in Ulm in Baden-Württemberg – das direkt mit Neu-Ulm zusammenhängt.
„Die Umsetzung der Regelungen aus zwei unterschiedlichen Landesverordnungen stellen unsere beiden Städte vor immense Herausforderungen und verkomplizieren den Alltag der Bürgerinnen und Bürger in unserer Doppelstadt.“
In Baden-Württemberg müssen sich nun also alle Museen, Hotels, Fitnessstudios, Friseure und Restaurants in Innenräumen wieder ans Überprüfen von Impfpässen oder Tests machen, egal, wie die Infektionslage ist.
Das Sozialministerium empfahl in einem Schreiben an die Ortspolizeibehörden aber zumindest, bei der Ahndung von Verstößen gegen die neuen Pflichten zum 3-G-Nachweis in der ersten Woche zurückhaltend zu sein. Die Bürger sollten erst mal informiert werden, um sich mit den neuen Regelungen vertraut zu machen. „Dieses Vorgehen dürfte in der Bevölkerung auch zu einer Akzeptanzsteigerung gegenüber den neuen Regelungen beitragen“, heißt es.
Bleibt abzuwarten, ob das gelingt. Die baden-württembergische Polizei zumindest hat eine deutlich gestiegene Zahl von Angriffen auf Beamte im Zusammenhang mit Corona registriert, und das meist nicht bei Demonstrationen, sondern bei sonstigen Versuchen, Auflagen durchzusetzen.
Zumindest die Einwände der Clubs allerdings sind auf Gehör gestoßen im Ministerium: In einem eilig für Dienstag anberaumten Treffen zwischen Landesregierung und Club-Szene einigte man sich auf einen komplizierten Kompromiss, der zwar die Maskenpflicht kippt, aber dafür das Lüftungskonzept und die „Luftwechselrate“ in den Mittelpunkt rückt.
Doch wieso müssen Clubbesucher einen teuren PCR-Test vorweisen, den sie ab sofort selbst zahlen müssen, während im Bordell ein einfacher Schnelltest ausreicht? Auch das bleibt ein Geheimnis des Verwaltungsbeamten, der die Vorschrift formulierte.