Interview

Olaf Scholz: „Das ist das Schlimmste, was unserer Demokratie passieren kann“

14.10.2024
Lesedauer: 6 Minuten
Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Interview (Foto: Volker Bohlmann)

Der Bundeskanzler im Nordkurier-Interview: Warum Medien und Politik keine Einheit bilden dürfen, warum er rote Linien falsch findet und welche Frage er zum Ukraine-Krieg vermisst.

Herr Bundeskanzler, ein Sprecher der russischen Regierung hat ein mögliches Telefonat zwischen Ihnen und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin abgelehnt. „Auf den ersten Blick gibt es keine gemeinsamen Themen“, sagte Putin-Sprecher Dmitri Peskow. Was sagen Sie?

Ich will solche Äußerungen nicht weiter kommentieren. Klar ist: Deutschland ist in Europa der größte Unterstützer der Ukraine, nach den USA sind wir der zweitgrößte Unterstützer weltweit und wir werden das auch bleiben. Das ist ein wichtiges Zeichen für die Ukraine – und ein glasklares Zeichen an Putin: Der russische Präsident sollte nicht darauf setzen, dass unsere Unterstützung nachlässt. Putin führt seit mehr als zweieinhalb Jahren einen furchtbaren Krieg, der viel Tod und Zerstörung hervorbringt. Unser Ziel bleibt es, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit und Souveränität verteidigen kann. Viele Länder der Welt sehen das wie wir. Es hat bereits eine Reihe internationaler Konferenzen gegeben, in Kopenhagen, in Dschidda, in Valetta, in Davos und zuletzt auf dem Bürgenstock in der Schweiz, um darüber zu sprechen, wie dieser Krieg beendet werden kann. Bei der nächsten Konferenz sollte Russland mit am Tisch sitzen.

Es gibt vor allem in Ostdeutschland viele Stimmen, vielleicht sogar die Mehrheit, die kritisch sind, was die starke militärische Hilfe für die Ukraine betrifft…

Nicht nur in Ostdeutschland. Auf Bürgerdialogen in Ost und West wird mir fast immer die Frage gestellt, ob die Unterstützung in diesem Maße eigentlich richtig ist. Jetzt rächt sich ein wenig, dass diese Frage lange Zeit nie in Interviews gestellt worden ist, und sie auch in den Zeitungen, im Fernsehen und im Radio kaum eine Rolle spielte. Die Debatte bekam dadurch eine Schlagseite: Es fehlte in der veröffentlichten Diskussion eine Sichtweise, die in der öffentlichen Diskussion längst eine Rolle spielte. Sonst wäre es wahrscheinlich möglich gewesen, mehr Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass es richtig ist zu helfen.

Die Logik müssen Sie bitte erklären…

Als Bundeskanzler bin ich lediglich gefragt worden, warum ich nicht noch mehr und noch schneller Waffen an die Ukraine liefern würde. Die Frage, ob das überhaupt richtig ist, wurde hingegen kaum gestellt. Und dadurch kam die Erläuterung zu kurz, warum es wichtig ist, die Ukraine zu unterstützen und zugleich besonnen zu bleiben – das heißt, nicht alles zu tun, was manche lautstark fordern. So habe ich klar entschieden, dass wir keine Marschflugkörper liefern werden, und dass wir Regeln vereinbaren, wo die von uns gelieferten Waffen eingesetzt werden dürfen. Und das bleibt auch so!

„Meine Migrationspolitik hat nichts mit rechts oder links zu tun“

In den Medien wurden sie auch für Ihre Asyl- und Migrationspolitik kritisiert. „Abschiebe-Debatte: Scholz blinkt rechts“, hieß es etwa in der Frankfurter Rundschau.

Kritik gehört zur Demokratie. Meine Migrationspolitik hat aber nichts mit rechts oder links zu tun, sondern mit Vernunft und Humanität! Wer Schutz vor politischer Verfolgung sucht und zu uns kommt, erhält Schutz in Deutschland – so schreibt es unser Grundgesetz vor. Und unser Arbeitsmarkt braucht Zuwanderung, weil uns Arbeitskräfte fehlen, DAS gefährdet unseren Wohlstand. Die Bundesregierung hat deshalb das modernste Einwanderungsrecht geschaffen, das es in unserer Geschichte je gab. Wer nach Deutschland kommen will, um hier anzupacken – in den Krankenhäusern, Unternehmen, in der Pflege und Forschung – ist willkommen. Wir dürfen uns aber aussuchen, wer zu uns kommt. Und wir müssen geltendes Recht durchsetzen und irreguläre Migration verringern.

Bundeskanzler Olaf Scholz im Interview mit Politikredakteur Andreas Becker (M.) und Chefredakteur Philippe Debionne. (Foto: Volker Bohlmann)

Wer kein Anrecht hat, bei uns zu bleiben, muss das Land verlassen. Dafür braucht es mehr Abschiebungen. Das sind wir entschlossen angegangen: Die Zahl der Rückführungen steigt – in diesem Jahr um 20 Prozent, da müssen wir aber noch besser werden. Wir haben strikte Grenzkontrollen eingeführt. Wir haben die Leistungen für Asylbewerber abgesenkt, um Pull-Faktoren zu beseitigen. Und wir haben klar gemacht, dass jemand, der bei uns als Geflüchteter eine schwere Straftat begeht, nicht den gleichen Schutz genießen kann wie jemand, der sich anständig verhält. Ich habe mich sehr darum bemüht, dass jetzt auch Abschiebungen von Straftätern nach Afghanistan gelingen. All das zeigt Wirkung: Die Zahl der Asylgesuche ist in den vergangenen beiden Monaten um jeweils fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen.

„Wer kein Anrecht hat, bei uns zu bleiben, muss das Land verlassen“

Sie weisen die Kritik also zurück?

Ich nehme sie zur Kenntnis. Wem es in der Küche zu heiß ist, der sollte nicht regieren. Als Bundeskanzler braucht man einen guten Kompass und die Kraft, sich nicht beirren zu lassen, sondern das zu tun, was nötig und richtig ist für das Land, für Frieden und Sicherheit. Meine Arbeit in der Einwanderungs- und Migrationspolitik begann mit dem Einzug ins Kanzleramt 2021 und nicht erst nach dem schlimmen Anschlag von Solingen.

Ebenfalls oft kritisiert wird ihre Aussage aus der Corona-Zeit, als sie sagten: „Für meine Regierung gibt es keine roten Linien mehr.“ Wie stehen Sie heute zu diesem Satz?

Es darf keine roten Linien geben, das hat uns diese Pandemie nun wirklich gezeigt. Dazu stehe ich auch heute noch. Politik muss handlungsfähig bleiben. Wir müssen immer bereit sein umzudenken, wenn die Umstände es erfordern. Ich habe mich in keinem Politikfeld je auf rote Linien festlegen lassen, weil das nur zu einer hypernervösen Öffentlichkeit führt, wann eine solche Linie möglicherweise doch überschritten wird – weder in in der Corona-Pandemie, noch in der Frage von Krieg und Frieden.

Wie kann die Corona-Zeit aufgearbeitet werden?

Vorweg: Es war nötig, in der Pandemie Maßnahmen zu ergreifen, damit nicht zu viele Menschen sterben oder lebenslang von schweren Gesundheitsschäden gezeichnet sind. Trotzdem darf und muss man über jede dieser Entscheidungen heute sorgfältig diskutieren, was richtig war und was nicht. Aus meiner Sicht zum Beispiel die umfangreichen Schulschließungen oder nächtlichen Ausgangssperren. Sympathisch war mir der Vorschlag, dafür einen Bürgerrat einzuberufen, der berät, welche Lehren wir aus der Corona-Pandemie ziehen. Der Gedanke war, dass alle mitreden könnten, nicht nur Expertinnen und Experten und Abgeordnete.

Sie kritisieren die Medien im Umgang mit dem Ukraine-Krieg, weil kritische Fragen ausblieben. Zählt das rückblickend auch für die Corona-Berichterstattung? 

Antwort: Bei der Ukraine habe ich meine Kritik auf einen einzelnen Aspekt bezogen, das ist mir wichtig. Bei Corona habe ich eine durchaus kontroverse öffentliche Debatte in Erinnerung – medial wie politisch. Und ich wundere mich über manche, die heute noch eigenwillige Verschwörungstheorien verbreiten. Da erinnere ich gerne daran, dass vieles zu Beginn dieser Pandemie nicht bekannt war, das Virus sich mehrfach verändert hat, die Gesundheit unglaublich vieler Menschen bedroht war und wir alle froh sein können, dass in kürzester Zeit in Deutschland ein wirksamer Impfstoff entwickelt worden ist.

Haben die Medien bei den großen Herausforderungen unserer Zeit – Ukraine, Migration, Corona – versagt?

Es ist unsere Aufgabe, dass wir als demokratische Politikerinnen und Politiker über unsere unterschiedlichen Ansichten kritisch diskutieren und dass Politik und Medien nicht als eine Einheit wahrgenommen werden. Das Schlimmste, was unserer Demokratie passieren kann, ist, wenn Medien und Politik als eine Soße wahrgenommen werden.

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