Zwei Monate nach dem tödlichen Islamisten-Attentat in Solingen steht weiter die Frage im Raum: Wie lassen sich syrische Straftäter oder Gefährder abschieben? Die autonome Selbstverwaltung Nordostsyriens bietet an, diese Leute genauso wie alle anderen Syrer aufzunehmen. Eine Alternative zu einem Deal mit Diktator Assad?
Als der Syrer Issa al H. im Sommer auf einem Stadtfest in Solingen drei Menschen ersticht, dauert es nicht lange, bis der Islamische Staat den Mörder im Internet als einen der seinen feiert. Das Attentat befeuert in Deutschland die Debatte darum, ob und wie straffällig gewordene Flüchtlinge oder auch Gefährder aus Syrien in ihre Heimat abgeschoben werden könnten. Zusätzlich Futter bekommt die Diskussion Ende Juli, als das Oberverwaltungsgericht Münster in einem Prozess urteilt, für Zivilpersonen bestehe in Syrien aktuell „keine ernsthafte, individuelle Bedrohung“ für Leib und Leben mehr.
Nun ist die Außenministerin von Nordostsyrien, Elham Ahmed, in Deutschland, um für Zusammenarbeit mit der autonomen Selbstverwaltung der Region zu werben. Ihr geht es um Entwicklungshilfe und Wiederaufbau, sie bietet aber auch eine Gegenleistung: die „uneingeschränkte Bereitschaft“, über die Rückführung von in Deutschland lebenden syrischen Flüchtlingen in ihre Heimat zu verhandeln. „Wir sind bereit, sie im Gebiet der Selbstverwaltung aufzunehmen, egal, ob sie ursprünglich aus diesem Gebiet kommen oder aus einem anderen Teil Syriens“, sagt Ahmed im Gespräch mit ntv.de. „Uneingeschränkt alle.“
Nordostsyrien ist stabil – im Vergleich mit dem Rest
Während Diktator Baschar al-Assad in einem syrischen Rumpfstaat entlang der Nord-Süd-Achse rund um die Städte Hama, Homs, Damaskus und die Hafenstadt Tartus ein repressives Regime führt, versucht die autonome Selbstverwaltung im Nordosten des Landes, einen eigenen Weg unabhängig von Assad zu gehen. Bislang vom Despoten geduldet, aber nicht anerkannt, gilt die Region derzeit als stabilster und sicherster Teil Syriens – im Vergleich mit den anderen. Militärisch ist die Verwaltung noch immer von der kurdischen Arbeiterpartei PKK abhängig, einer Organisation, die in Deutschland verboten ist.
Elham Ahmed betont im Interview mit ntv.de, man habe es innerhalb der letzten zehn Jahre geschafft, ein Bildungssystem, Krankenhäuser und einen kompletten Verwaltungsapparat „nahezu von Null“ an aufzubauen. Der Sicherheitsapparat für Inneres und Äußeres umfasse inzwischen circa 100.000 Kräfte. Mehr als 4500 Schulen seien entstanden. Gleichheit der Geschlechter und Freiheit der Religion ist gesetzlich festgeschrieben. Die Region ist ein Schmelztiegel verschiedener Ethnien, darum hat man gleich drei Amtssprachen: Arabisch, Kurdisch und Assyrisch, sowie Englisch und Französisch als Fremdsprachen. Früher gab es nur Arabisch.
Rund 70 bis 80 Prozent der gesamtsyrischen natürlichen Ressourcen – zum Beispiel Öl, Gas und Weizen – liegen im Gebiet der Selbstverwaltung. Die großen Rohstoffvorkommen und Getreidefelder, für die Nordostsyrien auch „Fruchtbarer Halbmond“ genannt wird, sind Chance für wirtschaftliche Entwicklung. Doch immer wieder greift die Türkei völkerrechtswidrig syrisches Grenzgebiet an, zerstört kritische Infrastruktur in der Kurdenregion. Unterstützung aus der westlichen Welt wäre für die autonome Selbstverwaltung daher ungeheuer wertvoll.
Nun mag man sich nicht einfach nur einreihen in die Schlange der Bittsteller, sondern lockt die Bundesregierung mit dem ungewöhnlichen Angebot, syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Der Reiz daran: Deutschland könnte auf diese Art Straftäter aus Syrien abschieben, ohne mit Diktator Assad zusammenarbeiten zu müssen. Denn das ist bei Abschiebungen immer die größte Hürde: sich mit den Machthabern im Herkunftsland über die Rückführung zu einigen.
Um Menschen in größerer Zahl aufnehmen zu können, müsste laut der Außenministerin von Nordostsyrien, das sich seit 2012 Rojava nennt, zunächst die Infrastruktur geschaffen und die wirtschaftliche Situation verbessert werden. Durch die vergangenen Konflikte würden die Ressourcen nicht voll ausgeschöpft. „Wenn wir also darüber sprechen, Syrerinnen und Syrer aus Deutschland aufzunehmen, dann sind wir dazu in jedem Fall bereit. Wir müssen aber im selben Atemzug auch über Wiederaufbauhilfe sprechen, um die Region wirtschaftlich darauf vorzubereiten.“
Laut Elham Ahmed könne man „sofort“ mit kleinen Kontingenten beginnen, die notwendige Infrastruktur für größere Kontingente müsse erst geschaffen werden. „Dies könnte aber innerhalb eines Jahres passieren.“ Zusätzlich nehme Rojava derzeit etwa 20.000 syrische Flüchtlinge auf, die vor den israelischen Raketen aus dem Libanon fliehen. Die Selbstverwaltung traut sich viel zu.
Nordostsyrien – war da nicht was?
Was die Syrerin hier vorschlägt, ist anspruchsvoller, als es zunächst den Anschein haben mag. Denn die Zeiten, als der Islamische Staat sich anschickte, in Syrien sein Kalifat zu gründen, dafür mordete und brandschatzte, liegen noch nicht lange zurück. Rund sieben Jahre ist es her, dass die Terrororganisation nicht nur viele ihrer führenden Köpfe verlor, sondern auch Mossul und Rakka als „Hauptstädte“ ihres Kalifats.
Heute gilt die Terrorgruppe in weiten Teilen als sehr geschwächt und ohne territoriale Basis. Was allerdings übrig blieb: eine lose, radikale, schwer zu kontrollierende Netzwerkorganisation. In den letzten Jahren war sie vor allem im Irak selbst aktiv, nimmt aber bereitwillig auch Gotteskrieger in anderen Ländern unter ihre Fittiche – siehe Issa al H. nach dem Attentat von Solingen.
Rund 10.000 Dschihadisten sind noch immer inhaftiert, und zwar in Gefängnissen in Nordostsyrien. Ihre rund 55.000 Personen umfassenden Familien fristen ihr Dasein in überfüllten Lagern ohne jede Perspektive. Al-Hol ist wohl das bekannteste, auch deutsche IS-Familien leben noch dort. Die USA loben die Selbstverwaltung in Rojava als wichtigen Partner im Kampf gegen den IS. Von einer „tickenden Zeitbombe“ sprechen Experten aber mit Blick auf diese Camps und Gefängnisse, deren ganz eigene Gesetze von außen niemand durchdringt.
„Mit einem wirtschaftlich starken Syrien entzieht man dem Islamischen Staat ganz automatisch seine Grundlage, um die Menschen zu locken“, argumentiert Ministerin Ahmed. Sie zeigt sich zuversichtlich, dass Rojava die Herausforderung meistern könnte, Straftäter aus Deutschland aufzunehmen. Schlecht wäre es für Deutschland, wenn abgeschobene IS-Leute von dort aus direkt nach Damaskus durchgereicht würden. Dann bestünde die Gefahr, dass Assad sie direkt wieder Richtung Deutschland losschickt, um hier die Sicherheitslage zu schwächen.
Berlin reagierte noch nicht auf das Angebot
Von der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster fühlt sich Ahmed bestätigt. „Wir haben die Debatte und das Urteil aus der Ferne sehr genau verfolgt. Es erfüllt uns mit Stolz, dass die Richter mit ihrem Urteil das bestätigt haben, wofür Politiker wie ich, aber in erster Linie auch die Zivilgesellschaft in Nordostsyrien, seit vielen Jahren kämpfen“, sagt sie. Ihre Regierung habe Berlin das Angebot zur Flüchtlingsrücknahme nach der Gerichtsentscheidung von Münster unterbreitet. Bisher sei darauf noch keine Antwort gekommen.
Deutschland und andere europäische Staaten hadern mit der Selbstverwaltung, weil ihr Status juristisch noch ungeklärt ist. Quer durch die Bundesparteien wird jedoch gefordert, wieder nach Syrien abzuschieben. Mit dem Assad-Regime werden keine Gespräche geführt, zumindest gilt das offiziell. Prominentester Befürworter für Rückführungen nach Syrien ist Bundeskanzler Olaf Scholz, zumindest, wenn es um Straftäter geht. Bereits im Juni sagte er in einer Regierungserklärung: „Straftäter gehören abgeschoben – auch wenn sie aus Syrien und Afghanistan stammen.“ Elham Ahmed und die Selbstverwaltung Rojavas stehen offenbar für Gespräche bereit.
Quelle: ntv.de