Täglich werden Messer-Attacken gemeldet. Die Zahlen der Bundesländer zeigen regionale Unterschiede. Unter den ausländischen Verdächtigen dominiert eine Nationalität.
Die Klinge war 15 Zentimeter lang, das ist es, was über die Tatwaffe von Solingen bekannt ist. Ein Messer. Wieder ein Messer. Es wurde in der Nähe des Ortes gefunden, an dem der syrische Flüchtling Issa al H. drei Menschen getötet und acht weitere verletzt hat, zum Teil so schwer, dass Ärzte um ihr Leben kämpfen mussten.
Schon vor der Bluttat von Solingen hatte in Deutschland eine Debatte darüber begonnen, wie man gegen Messerangriffe vorgehen kann. Diese Angriffe, die überall zu passieren scheinen in diesem Sommer, die eine neue Angst ausgelöst haben, die davor, selbst von einer Klinge getroffen zu werden.
In Berlin bedrohte ein Mann einen anderen am Hauptbahnhof mit einem Messer, im Hauptbahnhof von Bonn wurde einem Mann in den Hals gestochen, in Braunschweig stach ein Onkel auf seinen Neffen im Streit ein, in Plauen eskalierte ein Streit an einem Kiosk, bis jemand ein Messer zog, in Rostock stritt ein Mann mit dem neuen Freund seiner Ex-Partnerin. Und schlug ihm mit dem Griff eines Messer auf den Kopf.
Polizeimeldungen aus den Tagen vor und nach dem Anschlag von Solingen. Es sind längst nicht alle aus dieser Woche, in denen das Wort Messer vorkommt. Die Bild-Zeitung sammelt die Fälle sogar schon in einem Live-Ticker. Ist das eine populistische Zuspitzung, eine Übertreibung im Sommerloch, ein Spiel mit der Angst? Wurden nicht auch früher Messer gezogen, von Räubern, bei Überfällen, im Streit?
Messer-Attacken: Nehmen die Fälle wirklich zu?
Doch wer wissen will, ob die Zahl der Angriffe mit Messern in Deutschland tatsächlich zunimmt, wie stark die Zahlen steigen, und wie sie sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, dem helfen Polizeimeldungen nicht weiter. Die Pressestellen der Polizei wählen aus der Unmenge der Fälle, die in ganz Deutschland jeden Tag aufgenommen werden, diejenigen aus, die sie für relevant oder kurios halten. Nur zu diesen Fällen schreiben sie Mitteilungen, die in den Redaktionen, auch der Berliner Zeitung, landen. Möglich, dass gerade mehr Messerangriffe an die Presse gemeldet werden, weil sich Journalisten und Bürger derzeit besonders für diese Fälle interessieren.
Um die Häufigkeit der Angriffe einzuschätzen – die der Polizei bekannt wurden – braucht man aussagekräftige Statistiken. Und die fehlen bisher in Deutschland. Es ist beinahe unmöglich, Vergleiche zwischen den Bundesländern anzustellen, die wirklich etwas aussagen. Und je länger man die Daten, die es gibt, studiert, umso mehr fragt man sich: Was lässt sich überhaupt aus ihnen herauslesen?
Messerangriffe werden seit 2020 bundesweit erfasst
Das stellte sich heraus, als die Berliner Zeitung in den vergangenen Wochen in allen Bundesländern nach diesen Statistiken fragte. Wir wandten uns an die jeweiligen Innenministerien und wollten wissen: Wie viele Messerangriffe wurden in den Jahren von 2020 bis 2023 im jeweiligen Bundesland erfasst? Was ist über Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen bekannt? Wir fragten auch nach Daten für die ersten sechs Monate in diesem Jahr – dazu gab kein Land uns Auskunft. Die Daten werden nur einmal im Jahr veröffentlicht, jeweils für das Vorjahr.
Es gibt sie überhaupt erst seit 2020. Im Januar dieses Jahres wurde das Phänomen „Messerangriff“ in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) aufgenommen. Im Jahr 2020 war die Erfassung noch nicht zuverlässig, wie die Behörden berichten. Daher werden die Daten erst seit dem PKS-Berichtsjahr 2021 veröffentlicht. Experten warnen weiterhin davor, sich auf die Daten zu verlassen, in den ersten Jahren nach Einführung einer neuen Kategorie müsse sich die Erhebung erst einpendeln. Schließlich kommt es auf jeden einzelnen Polizisten an, der einen Bericht über eine Straftat verfasst und damit die Daten erzeugt, die später ausgewertet werden können.
Der Föderalismus führt zu einer eigenständigen Datenerfassung in jedem Land, wobei lediglich der Begriff „Messerangriff“ einheitlich verwendet wird. Laut Definition sollen „Tathandlungen“ erfasst werden, bei denen „ein Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird“. Das bloße Mitführen eines Messers wird nicht erfasst.
Setzt das BKA die Zahl zu niedrig an?
Thomas Strobl ist Innenminister in Baden-Württemberg. Sein Ministerium beantwortet die Anfrage der Berliner Zeitung besonders ausführlich und sendet auch eine Einschätzung des CDU-Politikers. Es gehe auf seinen Vorschlag zurück, dass die Innenministerkonferenz eine einheitliche Statistik zu Messerangriffen eingeführt habe, lässt Strobl wissen. Mit der Kriminalstatistik 2023 könne man „zum ersten Mal genau und belastbar die Zahlen der Messerangriffe vergleichen“, sagt er. Innerhalb eines Bundeslands mag das stimmen – zwischen den Ländern bleibt ein Vergleich schwierig.
Das Bundeskriminalamt (BKA) gibt Zahlen für ganz Deutschland heraus, im April teilte es mit, dass im Jahr 2023 bundesweit 8.951 Messerangriffe „im Bereich der gefährlichen und schweren Körperverletzung“ registriert wurden. Das seien knapp zehn Prozent mehr als im Jahr 2022 gewesen. Zusätzlich seien 4.893 Fälle von „Raub mit dem Tatmittel Messer“ erfasst worden.
Macht 13.844 Messerangriffe im Jahr 2023. Fast 38 am Tag. Damit könnte man sehr lange Live-Ticker befüllen. Trotzdem scheint die Zahl zu niedrig angesetzt.
Der Grund: Das BKA weicht, indem es nur gefährliche und schwere Körperverletzung sowie Raub mit einem Messer zählt, von der seit 2020 geltenden Definition für „Messerangriffe“ ab. Die Schwere der Verletzungen wird dort nicht als Kriterium genannt. Schon wenn ein Mensch mit einem Messer nur „unmittelbar“ bedroht wird, handelt es sich dieser Definition zufolge um einen Messerangriff.
Warum diese Abweichung? Ein Sprecher des Bundeskriminalamts teilt auf Anfrage mit, dass „weiterer Harmonisierungsbedarf“ bei der Erfassung der Angriffe festgestellt worden sei. Aufgrund „mangelnder Validität“ seien die Daten zu Messerangriffen „nicht vollumfänglich veröffentlicht“ worden. Das Bundeskriminalamt traut also der Datenerhebung in den Bundesländern noch nicht. Und hat sich deshalb entschieden, für das Jahr 2023 nur die schweren Fälle zu zählen.
Wenn man die Werte für sämtliche Messerangriffe zusammenrechnet, die alle Bundesländer an die Berliner Zeitung übermittelt haben, kommt man auf 26.129 Fälle im Jahr 2023 in Deutschland. Von der reinen Bedrohung bis zu Tötungsdelikten.
Die meisten Messerangriffe pro Einwohner: Berlin
Die meisten Messerangriffe meldet erwartungsgemäß Nordrhein-Westfalen, das bevölkerungsreichste Bundesland. Doch wenn man die Zahl der Angriffe mit der Zahl der Bewohner ins Verhältnis setzt, liegt Berlin klar an der Spitze.
Die Berliner Polizei teilt mit, dass sie im vergangenen Jahr 3.482 Messerangriffe verzeichnete. 90 Fälle auf 100.000 Einwohner. In fast der Hälfte der Angriffe (1.493) habe es sich um eine Bedrohung durch Messer gehandelt. In 860 Fällen wurden Messer bei einem Raub eingesetzt. In 918 Fällen wurden Menschen schwer verletzt.
Zu den Tatverdächtigen teilt die Polizei mit, dass fast 20 Prozent noch Kinder oder Jugendliche waren und acht Prozent „Heranwachsende“, also junge Erwachsene im Alter von 18 bis 21. Fast alle Verdächtigen, 87 Prozent, waren Männer, und mehr als die Hälfte, 53,5 Prozent, hatte keinen deutschen Pass. Zum Vergleich: Nur ein Viertel der Berliner hat keine deutsche Staatsangehörigkeit.
„Die Häufigkeitszahl hängt stark von der Bevölkerungsdichte ab“, erklärt die Polizei Berlin. Die Anonymität der Großstadt spiele ebenso eine Rolle wie die „vielfältigen Tatanreize“. Berlin sei nach München die Stadt mit der höchsten Bevölkerungsdichte in Deutschland.
In der Tat ist auch in den beiden anderen Stadtstaaten die Gefahr, Opfer eines Messerangriffs zu werden, höher als in Flächenländern. Wenn man die Zahl der Angriffe pro Einwohner vergleicht, folgt Hamburg an zweiter Stelle. Dort wurden im vergangenen Jahr 1.269 Fälle registriert; etwa 66,4 pro 100.000 Einwohner. In Bremen, Platz drei, gab es 391 Messerangriffe; 56,5 pro 100.000 Einwohner.
In Bayern ist es besonders friedlich
Baden-Württemberg teilt mehr Details zu den Fällen mit als andere Bundesländer. Im Jahr 2023 stieg die Zahl der Messerangriffe dort auf 3.104 Fälle. Das sind immer noch weniger als in Berlin – obwohl in dem großen Bundesland dreimal so viele Menschen leben.
Auch im Südwesten sind die meisten Tatverdächtigen männlich, zwei Drittel hatten vorher schon mit der Polizei zu tun. Auch hier haben mehr als die Hälfte keinen deutschen Pass. Acht Prozent aller Verdächtigen waren Syrer, 6,5 Prozent Türken, auch Tunesier, Rumänen, Algerier, Afghanen, Ukrainer und Italiener listet die Statistik auf.
Noch viel friedlicher geht es in Bayern zu, dort leben noch einmal mehr Menschen – im Jahr 2023 wurden nach Angaben der Polizei des Freistaats nur 862 Angriffe mit Messern erfasst, Bedrohungen inbegriffen.
Im Osten meldet Sachsen-Anhalt die höchsten Zahlen
Unter den ostdeutschen Bundesländern variiert die Zahl der Messerangriffe pro 100.000 Einwohner erheblich. Spitzenreiter war Sachsen-Anhalt mit 49 Fällen pro 100.000 Einwohner – das ist ein Wert, der fast an den von Bremen heranreicht. Auch hier waren die meisten Tatverdächtigen männlich, ein Drittel hatte keinen deutschen Pass. In Sachsen-Anhalt leben allerdings auch nur sehr wenige Ausländer, nur knapp acht Prozent der Bevölkerung sind keine Deutschen. Das heißt ihr Anteil an Tatverdächtigen ist dreimal so hoch wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Jeder dritte Ausländer, der bei einem Messerangriff als tatverdächtig galt, war in Sachsen-Anhalt ein Syrer. Auch in den anderen Bundesländern ist der Anteil der Ausländer unter den Tatverdächtigen höher als jeweils in der Gesamtbevölkerung. Unter den ausländischen Verdächtigen waren 2023 in sieben von acht Bundesländern, die Nationalitäten angegeben haben, Syrer am häufigsten vertreten. In Hessen waren mehr türkische Staatsbürger tatverdächtig. In Sachsen stellte die Polizei Verdächtige mit insgesamt 58 Nationalitäten fest – die mit Abstand größte Gruppe, die Deutschen, inbegriffen.
Sachsen verzeichnete 33,6 Fällen von Messergewalt auf 100.000 Einwohner. Mecklenburg-Vorpommern kam auf 32,96 Fälle. Brandenburg auf 26,3 Fälle. Thüringen weist mit 19,7 Fällen pro 100.000 Einwohner die geringste Rate im Osten auf. Aber das Land scheint aufzuholen, in nur vier Jahren hat sich die Zahl der Messerangriffe in der Statistik vervierfacht.
Das kann daran liegen, dass die Polizei in Thüringen die Fälle gründlicher erfasst, dass sie sich besser in das neue System eingearbeitet hat. Auch das ist allerdings ein Wert, der – wie die meisten in diesem Text – mit Vorsicht zu betrachten ist. Denn systematisch erfasst werden Messerangriffe in Deutschland noch immer nicht – allen Debatten über das Thema zum Trotz.