Deutsche Geheimdienste sehen Russland in wenigen Jahren in der Lage, den Westen anzugreifen. Um dafür gewappnet zu sein, braucht es unter anderem neue Schutzräume.
Berlin. Die Bundesregierung forciert ihre Pläne zum Schutz der Bevölkerung im Fall militärischer Angriffe. Auf „wesentliche Grundelemente eines nationalen Schutzraumkonzepts“ hätten sich Bund und Länder schon im Juni verständigt, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums dem Handelsblatt. Die Details würden nun in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe weiter ausgearbeitet.
Als Grundlage dient demnach das von der Bundesregierung 2023 entwickelte „Gesamtszenario zur Umsetzung der Konzeption Zivile Verteidigung“. Anlass ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verschärfte Sicherheitslage.
Dass der Bund deswegen mit Bedrohungsszenarien arbeitet, ist naheliegend. Auch die Nato macht das regelmäßig. Ebenso ist die Bundeswehr aktiv geworden und hat erstmals seit dem Kalten Krieg eine umfassende Verteidigungsstrategie entworfen. Der als geheim eingestufte „Operationsplan Deutschland“ (Oplan Deu) enthält detaillierte Überlegungen, wie im Verteidigungsfall vorgegangen werden sollte.
Die Brisanz der Lage hat jüngst der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Bruno Kahl, beschrieben, als er vor einer direkten militärischen Bedrohung Russlands gewarnt hat. „Spätestens Ende dieses Jahrzehnts dürften russische Streitkräfte in der Lage sein, einen Angriff auf die Nato durchzuführen“, sagte Kahl im Oktober in einer Anhörung des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags.
Um für den Kriegsfall gewappnet zu sein, ist neben der militärischen die zivile Verteidigung und damit der Schutz der Bevölkerung zentral. Hier gibt es allerdings teils große Defizite. Von ursprünglich 2000 öffentlichen Schutzräumen in Deutschland sind derzeit nur noch 579 nutzbar.
Bevölkerung soll ermuntert werden, selbst Schutzräume einzurichten
Im Kriegsfall könnten dort etwa 480.000 Menschen Schutz finden, das ist etwas mehr als ein halbes Prozent der Bevölkerung. Anders in Finnland: Dort kämen 85 Prozent aller Einwohner in einem Bunker unter. In der Schweiz sind es fast 100 Prozent. Die Regierung ist nun deshalb bemüht, schnellstmöglich einen neuen Bunker-Schutzplan zu erarbeiten.
Laut dem Ministeriumssprecher soll systematisch erfasst werden, welche öffentlichen und privaten Immobilien als Flucht- und Schutzräume infrage kommen. „Das können etwa Tiefgaragen, U-Bahnhöfe und Kellerräume sein“, sagte er.
Außerdem soll es unter anderem eine Übersicht über bestehende Bunker und Schutzräume geben, auf die auch die Bevölkerung zugreifen kann. Der Sprecher nannte ein digitales Verzeichnis, „das es Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, über Warn- und Kartendienste die für sie nächstgelegenen Schutzorte über das Handy zu ermitteln“.
Außerdem soll die Bevölkerung ermuntert werden, in Eigenheimen ebenfalls Schutzräume einzurichten. Speziell gehe es nun um die „flächendeckende Schaffung von Räumen, in denen sich Bürgerinnen und Bürger insbesondere in Kellern selbst schützen können, und Handlungsempfehlungen zu deren baulicher Ertüchtigung“, erklärte er.
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Details finden sich in einem als geheim eingestuften „Sachstandsbericht zur Entwicklung eines modernen Schutzraumkonzepts“. Das Papier liegt dem Handelsblatt vor. Erarbeitet wurde das Dokument von Experten des Innenministeriums, des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA).
Experten warnen vor „modernen Präzisionswaffen“
Die Empfehlungen sehen vor, dass die Bevölkerung im Fall militärischer Angriffe nicht in erster Linie in Großbunkern geschützt werden soll, sondern in dafür präparierten Kellern. „Gegen moderne Präzisionswaffen, die gezielt einzelne kriegsrelevante Objekte zerstören und bei deren Angriff nur wenige Minuten Vorwarnzeit verbleiben, sind zentral gelegene öffentliche Schutzräume für mehrere Hundert oder Tausend Menschen keine geeignete Schutzmaßnahme“, heißt es in dem Papier.
Die größte Gefahr für die Zivilbevölkerung stellen aus Sicht der Experten „Kollateralschäden dar, die zu Personenschäden in der Zivilbevölkerung insbesondere durch Trümmer- und Splitterflug oder durch die Druckwelle einer Explosion führen“. Räume unterhalb der Erdoberfläche oder im Inneren von Gebäuden würden „bereits heute vor einem Teil der anzunehmenden Gefahren“ schützen.
„Um die Schutzwirkung nochmals zu verbessern, kann auf freiwilliger Basis und mit einfachen, ohne handwerklichen Sachverstand ausführbaren Maßnahmen eine ‚Härtung‘ insbesondere von Kellerräumen erreicht werden“, schreiben die Experten.BSI-LageberichtCyberbehörde sieht „besorgniserregende“ Bedrohungslage – Angriffe gehen vor allem auf Russland zurück
Jeder Hausbesitzer oder Mieter könne selbst Kellerfenster oder Lichtschächte abdecken, heißt es in dem Bericht. Dies lasse sich in wenigen Stunden bis Tagen umsetzen. Gesetze brauche es dafür nicht. Die benötigten Materialien, etwa Bretter, Steine, Steinplatten, Erde, Sand, faserverstärkte Tragetaschen oder Sandsackhüllen ließen sich zudem „leicht und kostengünstig beschaffen“. Für alle jene, die Sozialleistungen beziehen, könne der Staat die Kosten übernehmen.
Wie die Bürger ihre eigenen vier Wände zum Schutzraum umbauen können, will das Bundesamt BBK in einer Broschüre zusammenfassen. Die Pläne möchte das Ministerium „crossmedial“ verbreiten, also über verschiedene Kanäle. In den „Selbstschutzräumen“ könnten die Bürger auf Lebensmittel, die in Kellern lagern, zugreifen und Sanitäreinrichtungen benutzen.
Darüber hinaus müssten „zumindest in Ballungsräumen“ Schutzmöglichkeiten für diejenigen angeboten werden, „die unterwegs von einem militärischen Angriff überrascht werden“. Geeignet dafür seien Räume in öffentlichen Gebäuden, Kaufhäusern, Tiefgaragen, U-Bahnstationen, Tunneln oder noch vorhandene Bunker.
Bis wann das Schutzkonzept fertiggestellt sein soll, sagte das Innenministerium nicht. „Es wird daran gearbeitet, auch mit der notwendigen Intensität“, sagte der Ministeriumssprecher. Es handele sich um „ein Vorhaben größeren Umfangs“. Deswegen könne er kein festes Datum nennen.
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