Weil das Bundesverfassungsgericht die EZB-Anleihenkäufe angezweifelt hat, eröffnet die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Der frühere CSU-Politiker Gauweiler warnt die Bundesregierung vor einem Kuhhandel mit Brüssel und kündigt eine Verfassungsbeschwerde an.
Der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler droht im Streit um die Macht des Bundesverfassungsgerichts in Europa mit einer neuen Verfassungsbeschwerde. Grund ist nach einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission am Mittwoch gegen Deutschland eingeleitet hat. Die Karlsruher Richter sollten zum Einlenken gezwungen werden und damit überschreite die Kommission ihre Kompetenzen, sagte Gauweiler der Zeitung. Juristisch heißt ein solcher Akt der Kompetenzanmaßung ein Handeln „ultra vires“. Die Bundesregierung müsse das Vertragsverletzungsverfahren deshalb zurückweisen, forderte Gauweiler.
„Das von der EU-Kommission initiierte Vertragsverletzungsverfahren stellt einen erneuten Ultra-vires-Akt dar“, erläuterte der Jurist. „Die EU-Kommission erklärt damit die vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 5. Mai 2020 festgestellte Verletzung des Wahlrechts, des Rechtsstaatsprinzips und der unveränderbaren Verfassungsidentität des Grundgesetzes durch EU-Institutionen faktisch für unbeachtlich.“
Im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens hat nun die Bundesregierung Gelegenheit zur Stellungnahme. Regierungssprecher Steffen Seibert hatte am Mittwoch mitgeteilt, die Bundesregierung werde die Argumente aus Brüssel genau prüfen und schriftlich antworten. Nach Ansicht von Gauweiler gibt es für diese Antwort jedoch nur eine Möglichkeit: Die Regierung müsse dieses Verfahren „ausnahmslos zurückweisen“, sie habe diesbezüglich keinerlei Ermessen, könne sich also auch nicht auf einen Kompromiss mit Brüssel einlassen, auf den jetzt viele hoffen, sagte Gauweiler der FAZ weiter.
„Bundesregierung darf Kompetenzüberschreitung nicht dulden“
Gauweiler leitet diese Notwendigkeit direkt aus dem umstrittenen Karlsruher Urteil vom Mai vergangenen Jahres ab, das der Anlass für die offene Auseinandersetzung zwischen der EU und Deutschland ist. Das Bundesverfassungsgericht habe in dieser Entscheidung ausdrücklich festgestellt, dass Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte weder am Zustandekommen noch an der Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von „Ultra vires“-Akten mitwirken dürfen. „Diese Pflicht zur Verteidigung der deutschen Verfassungsidentität bindet die Bundesregierung deshalb auch im laufenden Vertragsverletzungsverfahren“, erklärte Gauweiler.
Sollte die Bundesregierung dem nicht nachkommen, werde er dagegen vorgehen: „Ich habe heute meinen Prozessvertreter beauftragt, bei einer unzureichenden Wahrnehmung dieser vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verpflichtung durch die Bundesregierung oder andere Organe des Bundes erneut Verfassungsbeschwerde einzureichen.“
„Europarecht bindet nationale Gerichte“
Experten hatten das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland zuvor ebenfalls als juristischen Grundsatzstreit gewertet. Da das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung die von Brüssel nachgelieferte Begründung für die ausufernden Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank akzeptiert hatte, gibt es in der Sache eigentlich keinen Dissens mehr zwischen der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs und der Haltung des Bundesverfassungsgerichts.
Dass Brüssel trotzdem ein Verfahren gegen Deutschland eröffnet, muss daher als Kraftprobe aufgefasst werden. So hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon wenige Tage nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil ein Vertragsverletzungsverfahren nicht ausgeschlossen. „Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind für alle nationalen Gerichte bindend“, erklärte sie im Mai 2020. „Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst.“
Quelle: ntv.de, mau