Aus Deutschland nach Afghanistan abgeschobene Straftäter wurden mit einem üppigen Handgeld ausgestattet. Ein Asylrechtler gibt einer „überzogenen Rechtsprechung“ die Schuld daran. Zudem zeigt sich: Solch hohe Summen sind unüblich – und haben Faeser einen politischen Erfolg erkauft.
Es gibt Themen, bei denen sich mit jedem Zoom näher an die Materie heran die Bewertung einmal umkehrt. So verhält es sich auch bei dem Handgeld in Höhe von 1000 Euro, das die 28 afghanischen Straftäter erhalten haben, die in der vergangenen Woche von Deutschland nach Kabul abgeschoben wurden.
Oberflächlich betrachtet klingt das absurd: Denjenigen, die der Staat loswerden will, wirft er noch einen Batzen Geld hinterher. „Dass Vergewaltiger und andere Schwerstkriminelle auch noch bei der Rückreise in ihr Heimatland ein Handgeld von 1000 Euro bekommen, ist inakzeptabel!“, polterte zum Beispiel der CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph Ploß bei X.
Faeser spricht von „üblichem Verfahren“ bei Handgeld-Zahlung
Schnell fanden sich unter Ploß‘ Post bei X und anderswo Einschätzungen, die näher an das Thema heranzoomten. Sogar Bundesinnenministerin Nancy Faeser höchstselbst lieferte im ZDF-„heute journal“ eine Erklärung. Es handle sich um ein „übliches Vorgehen“ , die SPD-Politikerin schob etwas verschwurbelt hinterher: „Das soll quasi die Sicherheit der Maßnahme sozusagen absichern.“ Es bestehe die Gefahr, dass Gerichte die Abschiebungen kassieren würden, wenn den Afghanen ohne Handgeld die Verelendung in ihrer Heimat drohe.
Die Argumentation geht zurück auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes im April 2022. Das entschied, dass ein Afghane nur abgeschoben werden darf, wenn er danach in der Lage ist, seine „elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen“. Als Gegenmaßnahme erwähnt das Gericht explizit „gewährte Rückkehrhilfen“.
Handgeld soll Abgeschobenen helfen – und Faeser-Niederlage vor Gericht verhindern
Auf die Praxis übertragen bedeutet das: Wenn ein Mensch in sein Heimatland abgeschoben wird, muss er sein Leben dort oft von Grund auf neu aufbauen. Dazu gehört es zum Beispiel, einen Job zu suchen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können oder eine Wohnung zu finden. Hat der Abgeschobene kein Vermögen und ist die humanitäre Lage im Land besonders schlecht, fällt das schwer. Im schlimmsten Fall drohen Obdachlosigkeit und Verelendung.
Das Handgeld dient dann als eine Art Anschubfinanzierung. Wie hoch genau diese sein muss, definiert das Gericht nicht. Klar ist aber, dass der deutsche Staat nicht dauerhaft den Lebensunterhalt der Abgeschobenen bezahlen muss.
Das alles wird man in Faesers Ministerium genau studiert haben. Die nach dem Solingen-Anschlag symbolträchtige Abschiebung von Straftätern sollte auf keinen Fall an Gerichten scheitern. Also entschloss man sich zu jener hohen Handgeld-Zahlung, die vor diesem Hintergrund durchaus plausibel scheint.
„Überzogene Rechtsprechung“ zum Folter-Paragrafen von „überloyalen“ Gerichten
Doch zoomt man noch näher an die Thematik heran, offenbaren sich unangenehme Fragen zu den Afghanistan-Abschiebungen. Zunächst hat das mit der Gesetzeslage und Rechtsprechung zu tun. Das Bundesverwaltungsgericht bezog sich in seinem Urteil nämlich auf die Europäische Menschenrechtskonvention, genauer auf deren dritten Artikel.
Liest man in dem Vertragswerk nach, findet man an dieser Stelle lediglich Bestimmungen zu einem anderen Thema: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Von drohender Verelendung steht in dem Artikel kein Wort.
Der renommierte Asylrechtler Kay Hailbronner spricht deshalb von einer „überzogenen Rechtsprechung zum Begriff der unmenschlichen Behandlung“. Die Verwaltungsgerichte in Deutschland seien „nicht selten überloyal“ zum Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der über die Einhaltung der Konvention wacht.
So sei es gekommen, dass man den eigentlich auf Folter ausgelegten Artikel nun auch auf Fälle anwenden würde, in denen eine „unmenschliche Behandlung“ nicht durch das absichtliche Zufügen von Verletzungen zustande kommt.
Handgeld ist „skurriler Versuch“, die überzogene Rechtsprechung zu umgehen
„Das Reisegeld von 1000 Euro ist nun der skurrile Versuch, diese überzogene Rechtsprechung zu den elenden Lebensverhältnissen zu ‚umgehen‘“, erklärt Hailbronner im Gespräch mit FOCUS online. Dabei stehe die Interpretation des Bundesverwaltungsgerichts ohnehin im Gegensatz zur Genfer Konvention. Ihr zufolge seien weitgehende Abschiebehindernisse bei einer Gefährdung der Bevölkerung – wovon bei Straftätern auszugehen ist – dezidiert nicht vorgesehen.
Asylrechtler Hailbronner skizziert einen Ausweg, damit Deutschland sich bei künftigen Abschiebungen nicht mehr an die Fehlinterpretation des Folter-Artikels gebunden sehen muss: Die Flüchtlings-Hauptaufnahmestaaten, die Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention sind, müssten sich darauf verständigen, den Folter-Artikel wieder im ursprünglichen Sinn zu behandeln.
CDU-Innenpolitiker fordert von der Ampel eine EU-Initiative
„Dafür stehen meines Erachtens die Chancen nicht so schlecht“, glaubt Hailbronner. „Man muss nur wollen und auf der europäischen Ebene proaktive Flüchtlingspolitik zusammen mit Österreich, Dänemark, Großbritannien und den osteuropäischen EU-Außenstaaten betreiben.“ Das EU-Asylsystem sei fundamental gescheitert und müsse dringend reformiert werden – die jüngst beschlossenen Änderungen seien nur ein Anfang, aber lange nicht ausreichend.
Ähnlich sieht das der CDU-Innenpolitiker Christoph de Vries: Maßgeblich bei der Anwendung des Folter-Artikels müsse eine konkrete Gefahr für Leib und Leben durch Gewaltanwendung sein. „Es wäre gut, wenn die deutsche Bundesregierung, die ansonsten der migrationspolitische Geisterfahrer in Europa ist, hier die Initiative für eine rechtliche Klarstellung auf EU-Ebene ergreifen würde, damit ‚Abschiebungen im großen Stil‘, wie der Bundeskanzler ankündigte, endlich Wirklichkeit werden“, fordert der Hamburger Bundestagsabgeordnete im Gespräch mit FOCUS online.
Faeser-Ministerium hat Höhe des Handgelds vorgeschlagen
Neben der Gesetzeslage gibt es auch diskussionswürdige Punkte, die Innenministerin Faeser direkt treffen. Wie die „Bild“ zuerst berichtete und FOCUS online bestätigen kann, war es nämlich ihr Haus, dass das Handgeld in Höhe von 1000 Euro den zuständigen Landesministern vorgeschlagen hatte. In einer Sondersitzung des Bundestags-Innenausschusses hat die Ministerin hingegen den Eindruck erweckt, allein die Länder seien zuständig gewesen. Auf Nachfrage will das Faeser-Ministerium sich zum Ablauf nicht äußern.
Offen bleibt auch, wie die Höhe des Handgeldes berechnet wurde. Nach Angaben des Auswärtigen Amts verdient ein ungelernter Arbeiter in Afghanistan umgerechnet rund 100 Euro im Monat. Mit 1000 Euro würde ein solcher also zehn Monate über die Runden kommen – für eine Anschubfinanzierung ist das lange.
Möglicherweise hat sich das Innenministerium bei der Höhe des Handgeldes an dem Programm für freiwillige Rückkehrer orientiert. Wer von sich aus in sein Heimatland zurückreist, erhält neben dem Flugticket nämlich ebenfalls 1000 Euro. Allerdings gibt es einen gewaltigen Unterschied zu den nun abgeschobenen Afghanen: Diese waren Straftäter, zudem musste die Bundesregierung einen enormen Aufwand betreiben und viel diplomatisches Geschick einsetzen, um die Rückführung in das Taliban-Land überhaupt zu ermöglichen.
Bundesländer zahlen in der Regel weniger als ein Zehntel
In der Regel entscheiden tatsächlich die Bundesländer allein über die Zahlung von Handgeldern. Fragt man dort nach, wie abseits der symbolträchtigen Afghanistan-Abschiebung mit Handgeldern umgegangen wird, erfährt man Überraschendes: Zwar gibt es keine Statistiken zur Gesamtzahl und Summe der bezahlten Handgelder. Aus dem Bremer Senat für Inneres hat FOCUS online aber beispielsweise erfahren, dass die Zahlung dort viel restriktiver gehandhabt wird als im Falle von Faesers Afghanistan-Abschiebung.
Das durchschnittliche Handgeld in Bremen beträgt einer Senatssprecherin zufolge 75 Euro – also weniger als ein Zehntel der nun bezahlten Summe. Das Geld sei lediglich dafür gedacht, „sich im Ankunftsland etwas zu essen oder zu trinken sowie ein Busticket in die Heimatstadt kaufen zu können“.
Zudem werde kein Handgeld bezahlt, wenn die Person über eigene Mittel verfüge. Bemerkenswert ist auch folgende Erklärung: „Personen, die aus der Haft abgeschoben werden, verfügen oft über ein Haftkonto und bekommen somit ebenfalls kein Handgeld.“ Möglicherweise gab es ein solches Konto auch bei den nach Afghanistan abgeschobenen Straftätern.
Immerhin: Das Innenministerium von Sachsen-Anhalt teilt FOCUS online mit, dass nur einer der zwei aus dem Bundesland abgeschobenen Afghanen ein Handgeld erhalten habe. „Die andere Person verfügte über hinreichende Eigenmittel“, so eine Sprecherin. Allerdings sind auch in Sachsen-Anhalt die Handgelder in der Regel viel niedriger – bei Einzelpersonen 50 Euro, bei Familien 150 Euro. Von 50 Euro ist auch in Hamburger, Thüringen und Nordrhein-Westfalen die Rede.
Faeser war bereit, hohen Preis für symbolträchtige Abschiebungen zu zahlen
Das stützt den Verdacht, dass die Handgeld-Zahlungen an die 28 abgeschobenen Afghanistan-Flüchtlinge unverhältnismäßig hoch waren. Die heikle Frage, die sich dann stellt: Profitierten die Straftäter davon, dass Faeser unbedingt eine erfolgreiche Abschiebung präsentieren wollte – zu einem günstigen Zeitpunkt zwischen Solingen-Attentat und Ost-Landtagswahlen? Und profitierten vielleicht sogar die Taliban, die das Geld in Kabul konfisziert haben könnten?
Innenpolitiker de Vries übt deshalb Kritik an Faeser: „Offenkundig war die Innenministerin bereit, einen hohen Preis dafür zu zahlen, dass die symbolträchtigen und lange angekündigten Abschiebungen nach Afghanistan nicht scheitern.“ Der CDU-Politiker betont: „1000 Euro Handgeld sind gemessen an den afghanischen Lebensverhältnissen und der bisherigen Praxis unverhältnismäßig und zu viel.“
Auch zu diesen Vorwürfen bekommt man keine Antwort aus dem Innenministerium. Das Argument, wie so oft bei Abschiebe-Themen: Die Länder seien zuständig. Dort stand man offenbar vor dem Dilemma, endlich den Wunsch nach Afghanistan-Abschiebungen erfüllt zu bekommen, dafür aber zähneknirschend Faesers Handgeld-Vorschlag akzeptieren zu müssen.
Zum Beispiel in Baden-Württemberg versucht das für Abschiebungen zuständige Justizministerium Faesers Handgeld-Praxis nun wieder einzufangen. Ein Sprecher betont, das Geld sei in einer „singulären Situation gezahlt“ worden, die „keine Verwaltungspraxis oder Berufungsfälle begründet“.
sebs/