Ursula von der Leyens geheime Impfstoff-Deals haben gegen EU-Recht verstoßen. Erste Forderungen nach einem Verzicht auf eine Kandidatur werden laut.
Ursula von der Leyens EU-Kommission hat nach einem Urteil des EU-Gerichts mit der Geheimhaltung von Informationen zu milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen gegen EU-Recht verstoßen. Mit Blick auf mögliche Interessenkonflikte und Entschädigungsregeln für Impfstoff-Hersteller habe die Brüsseler Behörde nicht ausreichend Zugang zu Dokumenten gewährt, entschieden die Richter in Luxemburg. Das Urteil kann vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) angefochten werden.
Vor allem der umstrittene Haftungsausschluss wird vom Gericht moniert. Das Gericht schreibt in einer Pressemitteilung, die Haftung aufgrund der Richtlinie 85/3742 könne „gegenüber dem Geschädigten nicht durch eine die Haftung begrenzende oder von der Haftung befreiende Klausel begrenzt oder ausgeschlossen werden“. Es weist darauf hin, „dass der Hersteller für den Schaden haftet, der durch einen Mangel seines Produkts verursacht worden ist“. Allerdings verbiete das EU-Recht nicht, „dass ein Dritter den Schadensersatz erstattet, den ein Hersteller wegen der Fehlerhaftigkeit seines Produkts gezahlt hat“. Das wären im Fall der Pfizer-Deals vermutlich die EU-Mitgliedstaaten oder die EU-Kommission – je nachdem, was in den geheimen Verträgen vereinbart wurde. Das Procedere für Geschädigte ist somit klar: Sie können die Hersteller verklagen, und diese müssen sich dann die Entschädigungszahlungen entweder bei der EU-Kommission oder bei den Mitgliedstaaten zurückholen.
Das Gericht beanstandete außerdem, dass die EU-Kommission nicht ausreichend begründet habe, warum ein weitgehender Zugang zu den Klauseln über Entschädigungsregeln die geschäftlichen Interessen der Unternehmen beeinträchtigen würde.
Das Gericht erteilt der EU-Kommission auch im Hinblick auf die Geheimhaltung von möglichen Interessenskonflikten eine Abfuhr: Die EU-Kommission habe mit Verweis auf den Schutz der Privatsphäre von Personen den Zugang zu den Dokumenten verweigert. Die Kläger hatten den Zugang gefordert, um etwaige Interessenskonflikt evaluieren zu können. Hier ist das Gericht eindeutig und stellt mit einiger Schärfe fest: Die Kläger hätten „nur dann überprüfen können, dass bei den fraglichen Mitgliedern kein Interessenkonflikt bestand, wenn ihnen deren Namen und Vornamen sowie deren berufliche oder institutionellen Rolle vorgelegen hätten“.
Während der Pandemie hatte die EU-Kommission in den Jahren 2020 und 2021 im Namen der Mitgliedstaaten mit Pharmaunternehmen Verträge über Hunderte Millionen Dosen Impfstoff verhandelt und abgeschlossen. Insbesondere die geheimen und per Textnachrichten geführten Verhandlungen von der Leyens mit Pfizer-Chef Albert Bourla stehen seit langem in der Kritik. Die Nachrichten wurde bisher geheim gehalten, es ist unklar, ob sie gelöscht wurden. 2021 beantragten EU-Abgeordnete und Privatpersonen, Zugang zu den Verträgen zu bekommen. Von der Leyens Kommission gab jedoch nur einen Teil der Verträge heraus. Daher klagten Parlamentarier und Privatpersonen und bekamen nun teilweise recht.
Die EU-Ombudsfrau und der EU-Rechnungshof hatten erfolglos versucht, von der Leyen zur Transparenz zu veranlassen. Unter anderem ermittelt die Europäische Staatsanwaltschaft in dem Zusammenhang, es gibt mehrere Klagen, unter anderem von der New York Times.
Das Urteil kommt einen Tag vor der Abstimmung im Europäischen Parlament über eine zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin. Der BSW-Abgeordnete Fabio De Masi fordert auf X nun Konsequenzen. Er schreibt: „Die Bewerberin für das Amt der Präsidentin der EU-Kommission von der Leyen bekommt einen Tag vor der Wahl vom Gerichtshof der EU bescheinigt, in der Pfizer-Affäre gegen EU-Recht verstoßen zu haben. Frau von der Leyen sollte auf eine Kandidatur verzichten und auch die verheimlichte SMS sofort veröffentlichen!“ Der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn sagte der Berliner Zeitung: „Die EU-Kommission schuldet nicht großen Konzernen Geheimhaltung, sondern der Öffentlichkeit Transparenz.“
Die französische Europaabgeordnete Manon Aubry (LFI, Die Linke) kritisierte in einer Pressekonferenz im Plenum in Straßburg am Mittwoch den „Mangel an Transparenz“ der Kommission. Auch von den Grünen, die von der Leyen eigentlich am Donnerstag zu EU-Kommissionspräsidentin wählen wollen, kommt Kritik: „In seinem heutigen Urteil hat der EuGH die Bedeutung angemessener Begründungen für alle Vorwürfe der Untergrabung des Geschäftsvertrauens anerkannt“, sagte Tilly Metz von den Grünen dem Magazin Euractiv. „Dieses Urteil ist für die Zukunft von Bedeutung, da die EU-Kommission voraussichtlich mehr gemeinsame Beschaffungen in Bereichen wie Gesundheit und möglicherweise Verteidigung durchführen wird“, sagte Metz, die zu jenen Abgeordneten gehört, die auf Herausgabe der Informationen geklagt hatten.
Die Pressemitteilung des EU-Gerichts im Wortlaut:
Die Kommission hat der Öffentlichkeit keinen hinreichend umfassenden Zugang zu den Verträgen über den Kauf von Impfstoffen gegen Covid-19 gewährt.
Dieser Verstoß betrifft insbesondere die Entschädigungsbestimmungen dieser Verträge und die Erklärungen über das Nichtvorliegen von Interessenkonflikten, die die Mitglieder des Verhandlungsteams für den Kauf der Impfstoffe abgegeben haben.
In den Jahren 2020 und 2021 wurden zwischen der Kommission und Pharmaunternehmen Verträge über den Kauf von Impfstoffen gegen Covid-19 geschlossen: Schnell wurden rund 2,7 Milliarden Euro freigegeben, um eine verbindliche Bestellung von über einer Milliarde Impfstoffdosen aufzugeben.
Im Jahr 2021 beantragten Europaabgeordnete und Privatpersonen auf der Grundlage der Verordnung über den Zugang zu Dokumenten1 Zugang zu diesen Verträgen und bestimmten mit ihnen zusammenhängenden Dokumenten, um ihre Bedingungen zu verstehen und sich von der Wahrung des öffentlichen Interesses zu überzeugen.
Da die Kommission nur teilweisen Zugang zu diesen Dokumenten gewährte, die in bereinigten Fassungen online gestellt wurden, erhoben die betroffenen Europaabgeordneten und Privatpersonen Nichtigkeitsklagen beim Gericht der Europäischen Union.
In seinen Urteilen gibt das Gericht beiden Klagen teilweise statt und erklärt die Entscheidungen der Kommission für nichtig, soweit sie Fehler aufweisen.
Was die Bestimmungen dieser Verträge über die Entschädigung von Pharmaunternehmen durch die Mitgliedstaaten wegen etwaiger Schadensersatzansprüche betrifft, die die Pharmaunternehmen bei Mängeln ihrer Impfstoffe zu zahlen haben, weist das Gericht darauf hin, dass der Hersteller für den Schaden haftet, der durch einen Mangel seines Produkts verursacht worden ist.
Seine Haftung aufgrund der Richtlinie 85/3742 kann gegenüber dem Geschädigten nicht durch eine die Haftung begrenzende oder von der Haftung befreiende Klausel begrenzt oder ausgeschlossen werden. Jedoch verbietet die Richtlinie 85/374 nicht, dass ein Dritter den Schadensersatz erstattet, den ein Hersteller wegen der Fehlerhaftigkeit seines Produkts gezahlt hat. Das Gericht stellt fest, dass der Grund, aus dem die Entschädigungsbestimmungen in die Verträge aufgenommen wurden, nämlich das von den Pharmaunternehmen getragene Risiko im Zusammenhang mit der Verkürzung der Frist für die Entwicklung der Impfstoffe auszugleichen, von den Mitgliedstaaten gebilligt wurde und öffentlich bekannt war. Die Kommission hat nicht dargetan, dass ein weitergehender Zugang zu diesen Klauseln die geschäftlichen Interessen dieser Unternehmen tatsächlich beeinträchtigen würde.
Auch hat die Kommission nicht hinreichend erläutert, inwiefern der Zugang zu den Definitionen der Begriffe „vorsätzliches Verschulden“ und „alle möglichen und zumutbaren Anstrengungen“ in bestimmten Verträgen sowie zu den Vertragsbestimmungen über die Schenkung und den Weiterverkauf von Impfstoffen diese geschäftlichen Interessen konkret und tatsächlich beeinträchtigen könnte.
Was den Schutz der Privatsphäre von Personen betrifft, auf den sich die Kommission berufen hat, um den Zugang zu den Erklärungen der Mitglieder des Verhandlungsteams für den Kauf der Impfstoffe über das Nichtvorliegen von Interessenkonflikten teilweise zu verweigern, vertritt das Gericht die Auffassung, dass die betreffenden Privatpersonen den besonderen Zweck des öffentlichen Interesses an der Veröffentlichung der personenbezogenen Daten dieser Mitglieder ordnungsgemäß nachgewiesen haben. Sie hätten nämlich nur dann überprüfen können, dass bei den fraglichen Mitgliedern kein Interessenkonflikt bestand, wenn ihnen deren Namen und Vornamen sowie deren berufliche oder institutionellen Rolle vorgelegen hätten. Zudem hat die Kommission nicht alle maßgeblichen Umstände ausreichend berücksichtigt, um eine ordnungsgemäße Interessenabwägung im Zusammenhang mit dem Nichtvorliegen eines Interessenkonflikts und der Gefahr einer Beeinträchtigung der Privatsphäre der betroffenen Personen vorzunehmen.