Der ukrainische Staat wird im nächsten Jahr wohl noch mehr Liquiditätshilfe aus dem Ausland brauchen, schätzt der Internationale Währungsfonds. 50 Milliarden Dollar stehen im Raum. Die USA als bislang größte Geldgeber fordern deshalb von Europa mehr Engagement.
Die Amerikaner beklagen ein zu geringes finanzielles Engagement anderer Industrieländer für die Ukraine. „Der Anteil an direkten Zuschüssen muss sich erhöhen“, appellierte US-Finanzministerin Janet Yellen an ihre Kollegen auf der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Washington. Die USA sind seit Beginn des Krieges der mit Abstand größte Geldgeber für das von Russland angegriffene Land. Viele andere Länder, auch aus der Europäischen Union, waren bislang lediglich bereit, Kredite zu geben. Diese müssen anders als Zuschüsse irgendwann von der Ukraine wieder zurückgezahlt werden.
In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Streit zwischen Geberstaaten darüber, wer wie schnell und in welcher Form die Ukraine unterstützt. Die kurzfristigen Liquiditätshilfen werden vor allem zur Aufrechterhaltung des Staatsapparates gebraucht, etwa zur Zahlung von Renten und von Löhnen für Staatsbedienstete.
Um Zahlungen im kommenden Jahr besser zu koordinieren, schlug der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj nun ein neues Format vor, in dem dies besprochen werden soll. „Es wäre gut, eine ständige Arbeitsgruppe zu schaffen, die finanzielle Unterstützung für die Ukraine bereitstellt und zeitnah auf verschiedenen Ebenen arbeitet“, sagte Selenskyj. Der ukrainische Präsident war per Video zur Jahrestagung zugeschaltet.
Das Format soll sich an der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe orientieren, über die vor allem Waffenlieferungen für die ukrainischen Streitkräfte koordiniert werden. Diese Gruppe wurde im Frühjahr von den USA ins Leben gerufen. IWF-Chefin Kristalina Georgiewa sicherte Selenskyj eine solche Gruppe zu. „Ja, wir tun es“, sagte sie. Man wolle ein solches Format baldmöglichst auf die Beine stellen.
Georgiewa bezifferte den Liquiditätsbedarf der Ukraine im kommenden Jahr auf drei bis vier Milliarden Dollar im Monat, also auf bis zu 50 Milliarden Dollar im Jahr. Davon ausgenommen sind die noch sehr viel höher geschätzten Kosten für den Wiederaufbau des Landes. Für das laufende Jahr gibt es Zusagen für Zuschüsse und Kredite in Höhe von insgesamt 35 Milliarden Dollar. Die Summe wird als ausreichend angesehen. „Der IWF geht davon aus, dass damit alle Finanzlücken geschlossen werden können, die 2022 entstehen“, sagte Georgiewa.
An der grundsätzlichen Bereitschaft, die Ukraine auch im kommenden Jahr nicht nur militärisch, sondern auch finanziell zu unterstützen, ließen die in Washington versammelten Regierungsvertreter keinen Zweifel. „Zusammen mit der internationalen Gemeinschaft und in enger Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, die Ukraine in den kommenden Monaten und Jahren zu unterstützen“, erklärten die G7-Finanzminister am Rande der Herbsttagung.
Offen ist allerdings noch, welches Land im kommenden Jahr wie stark hilft. „Es geht jetzt darum, dass auch in eine langfristige Perspektive zu bringen, das heißt die Finanzierung des ukrainischen Staates auch im nächsten Jahr auf eine sichere Grundlage zu stellen“, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Daran werde nun systematisch gearbeitet.
Es soll ein fester Verteilungsschlüssel gefunden werden, um zähe Diskussionen über Höhe und Art der Hilfen, ob in Form von Zuschüssen oder Krediten, wie in diesem Jahr zu vermeiden.
Wie zäh solche Gespräche sein können, musste Lindner selbst bei dem von ihm ausgerichteten G-7-Gipfel im Mai auf dem Petersberg bei Bonn erfahren. Dort gelang es ihm nicht, die zuvor anvisierten 15 Milliarden Dollar an Zuschüssen aus dem Kreis der führenden Industrieländer zu organisieren. Während die Vereinigten Staaten und Deutschland damals bereit waren, Zuschüsse zu geben, waren die anderen fünf Länder – Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und Kanada – lediglich bereit, Kredite und Garantien zur Verfügung zu stellen.
1,4 Milliarden Dollar kamen bislang aus Deutschland
Auch wenn Deutschland mit insgesamt 1,4 Milliarden Dollar an Finanzhilfen laut Bundesfinanzministerium der größte Geldgeber innerhalb der Europäischen Union ist, gibt es gerade an der EU immer wieder Kritik. Laut dem viel beachteten „Ukraine Support Tracker“ des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel machten die Vereinigten Staaten zwischen Anfang August und Anfang Oktober neue Zusagen – nicht nur finanzielle – im Umfang von knapp zwölf Milliarden Dollar und kommen damit nun auf insgesamt gut 52 Milliarden Dollar an militärischer, finanzieller und humanitärer Hilfe. Die europäischen Länder und EU-Institutionen weiteten ihr Engagement im gleichen Zeitraum nur um rund 1,4 Milliarden Dollar aus und kommen gemeinsam auf knapp 29 Milliarden Dollar.
„Große europäische Staaten zeigen hier ein schwaches Bild, zumal viele ihrer gemachten Zusagen auch nur sehr verzögert in der Ukraine ankommen. Das niedrige Volumen neuer Zusagen im Sommer scheint sich nun systematisch fortzusetzen“, sagte Christoph Trebesch, Leiter des Teams, das den Ukraine Support Tracker erstellt. Die US-Regierung sei bislang ein sehr viel verlässlicherer Partner für die Ukraine als die größten EU-Länder.