Wolfgang Kubicki über „Trusted Flagger“

Das Handeln der Bundesnetzagentur ist ein Angriff auf die freie Rede

11.10.2024
Lesedauer: 9 Minuten
„Guter“ Hass wie dieser würde selbstverständlich nicht verboten / dpa

Die Bundesnetzagentur vergreift sich mit ihrem Konstrukt der „Trusted Flagger“ am vornehmsten Menschenrecht der freien Rede. Zu dem gehört auch die Artikulation von Hass. So (selbst-)schädlich diese Emotion auch sein mag, sie ist nicht per se illegal.

Es gibt einen SPD-Bundestagsabgeordneten, der Jens Zimmermann heißt und sich jüngst im Handelsblatt an mir abarbeitete. Von „unwürdig“ war die Rede und von „Stammtischniveau“. Auch einige grüne Abgeordnete und Influencer meldeten sich in den sozialen Netzwerken mit einem ähnlichen Grad artikulierter Empörung zu Wort. 

Anlass waren meine Äußerungen in der Bild, in denen ich das Vorgehen des Chefs der Bundesnetzagentur in Sachen „Trusted Flagger“ mit deutlichen Worten kritisierte. Offenbar nicht deutlich genug, denn die Äußerungen zeigen mir, dass manch einer unserer Koalitionspartner nicht in der Lage oder willens ist, den Kern meiner Ausführungen zu verstehen. Nach 34 Jahren in Parlamenten und insbesondere nach drei Jahren gemeinsamer Ampel-Koalition ist meine pädagogische Geduld jedoch nahezu unermesslich. Deswegen erkläre ich die Geschichte gerne noch einmal ganz von vorne.

Am Menschenrecht der freien Rede ist nichts missverständlich

Am Anfang steht ein Satz: „Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.“ Er wurde vor 175 Jahren in der sogenannten Paulskirchenverfassung, dem ersten ernstzunehmenden Versuch, ein liberales gesamtdeutsches Gemeinwesen zu errichten, veröffentlicht. Es ist ein einfacher, klarer und unmissverständlicher Satz. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes in die Tradition der Freiheitskämpfer von 1848/49 stellten, ihn in sehr ähnlicher Form übernahmen und sogar noch ergänzten: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ 

In Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es zur Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Auch hier bleibt das Grundgesetz in einer bemerkenswerten Klarheit und Kürze, die den Leser nicht überfordern sollte. Eine Gesetzgebungskunst, die in jüngster Zeit immer mehr verloren gegangen ist. Jedenfalls dachte ich bis jetzt, dass es daran nicht viel misszuverstehen gibt. Dann trat am Anfang des Monats Klaus Müller und die von ihm geführte Bundesnetzagentur, die neuerdings auch „Digital Service Coordinator“ ist, auf den Plan. 

Hass ist nicht illegal

Müller verkündete mit großem Stolz die Zertifizierung des ersten „Trusted Flagger“. Unter anderem führte er aus: „Plattformen sind verpflichtet, auf Meldungen von Trusted Flaggern sofort zu reagieren. Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden. Das hilft, das Internet sicherer zu machen.“ 

Ist das so?

Es war nicht ich, sondern der Zeit-Journalist und Jurist Jochen Bittner, der diese Aussage früh als „offenkundig verfassungswidrig“ bezeichnete. Die Aussage Müllers bedeute, „dass neben illegalen Inhalten auch legale Inhalte entfernt werden können“. Diese Einschätzung ist korrekt. 

Hass ist natürlich ein abscheuliches Gefühl. Er macht auf Dauer bitter und humorlos, weswegen er bei mir als treibende Gefühlsregung nie eine große Chance hatte. Er schadet also vor allem auch denen, die ihn in sich reifen lassen und zu lange nicht loswerden. Man schaue nur auf Greta Thunberg, die mit ihrem Hass auf die Vorgenerationen zum internationalen Superstar wurde („How dare you!“, „I want you to panic!“) und mit ihrem Hass auf Israel ihr Thema für eine weitere Welttournee gefunden hat. Die jüngsten Gastspiele in Deutschland haben uns das noch einmal eindrücklich vor Augen geführt

Aber Hass ist nicht per se illegal. So würde Klaus Müller wohl nicht auf die Idee kommen, dass der von Klimaangst getriebene Hass auf den „alten weißen Mann“ entfernt werden müsste. Immerhin ist dieser Hass der Impulsgeber des grünen Vorfelds, der Thunberg über Jahre zur Ikone erhoben hat. 

Kommt es darauf an, wer wen hasst?

Und was passiert eigentlich mit Parolen wie „Ganz Deutschland hasst die AfD!“, wie sie Jan Böhmermann auf X verbreitet hat? Ähnliche Bekenntnisse zum eigenen Hass findet man inzwischen auf jeder Demonstration gegen die AfD, und im Internet lassen sich problemlos Sticker bestellen, die bekunden, dass „ganz Hamburg“ die AfD hasse. 

Und so frage ich: Was nun, Herr Müller? Böhmermann löschen? Aufrufe zu entsprechenden Demonstrationen untersagen? Sticker beschlagnahmen?

Sie würden das wohl entschieden zurückweisen. Gut so! Aber was, wenn morgen jemand auf X postet: „Ganz Hamburg hasst die Grünen“? 

Vermutlich wird man dem entgegenhalten, dass die Grünen ja wohl etwas ganz anderes sind als die AfD. Stimmt. Aber das Recht – und diese Erkenntnis scheidet den Liberalen vom Grünen offenbar immer häufiger – ist in beiden Fällen dasselbe. 

Wieso beauftragt der Staat Dritte als Aufspürer?

Herr Müller ruderte nach der Diskussion mit Jochen Bittner auf X zurück, räumte aber ein, dass seine Äußerungen missverständlich seien. Natürlich gehe es nur um illegale Inhalte. Nun gut, könnte man meinen. Dann bleibt die Frage, wieso der Staat einen privaten Dritten mit dem Aufspüren von solchen Inhalten beauftragt. Es geht um Meinungsfreiheit, also „das vornehmste Menschenrecht“, wie das Bundesverfassungsgericht es einst klassifizierte. „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“

Hat der Leiter des ersten „Trusted Flagger“, der auf sozialen Netzwerken schon mal mit Hamas-Sympathisanten posierte, das wirklich verstanden? Und wie kommt es, dass ausgerechnet eine von Lisa Paus Ministerium finanzierte und eng mit der baden-württembergischen Landespolitik verwobene Organisation den ersten Zuschlag für die hochsensible Aufgabe erhält? Alles gut, versichert Müller, am Ende entschieden ja Gerichte. Ganz so, als wäre das besonders erwähnenswert. In Deutschland entscheiden am Ende immer Gerichte.

Die Kritik am Konstrukt der „Trusted Flagger“ trifft hier nicht den deutschen Gesetzgeber oder die Bundesnetzagentur. Es handelt sich um europäisches Recht, das umgesetzt wurde. Dieses europäische Recht halte ich für hochproblematisch und habe das in meinem Statement gegenüber Bild auch deutlich gemacht. Das muss dem SPD-Bundestagsabgeordneten in seiner Empörung über eben jenes Statement durchgerutscht sein, als er auf diesen Umstand abstellte. Rein vorsorglich weise ich darauf hin, dass es nicht nur legitim ist, europäisches Recht zu kritisieren, es ist sogar legal. EU-Verordnungen sind keine göttlichen Eingebungen und nicht sakrosankt. Ich bin sogar davon überzeugt, dass wir uns zu wenig über die Gesetzgebungsverfahren in Brüssel und Straßburg streiten, und darin ein Hauptgrund für die Vertrauenserosion in die europäischen Institutionen liegt. Sie erinnern sich: Der Kampf der Meinungen ist das Lebenselement der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung. Meines übrigens auch. 

Ein höchst fragwürdiger Leitfaden der Neztagentur 

Aber leider kommen wir in der Diskussion um die „Trusted Flagger“ überhaupt nicht so weit. Denn europäische Vorgaben sind das eine, und das andere ist, was man daraus macht. Die nachgeschobene Behauptung Müllers, es würden nur illegale Inhalte verfolgt, überzeugen mich jedenfalls nicht. Das liegt nicht nur an der oben geschilderten Konfusion um die Strafbarkeit von Hass in der Pressemitteilung, sondern auch am von der Bundesnetzagentur herausgegebenen „Leitfaden zur Zertifizierung als Trusted Flagger gemäß Artikel 22 Digital Services Act“. Der enthält als Anlage eine „Liste mit Bereichen unzulässiger Inhalte“. Diese Liste enthält Offensichtliches, wie beispielsweise Holocaustleugnung oder Kinderpornografie. Aber darf die Frage erlaubt sein, wieso sich darum nicht die Staatsanwaltschaft kümmert?

Enthalten ist in der Liste auch „Hassrede“, und damit stehen wir wieder am Anfang der Diskussion. Auch „Tierleid“ findet sich dort. Ich bin gespannt, ob die Videos von Tierrechtsorganisationen, die auf Missstände hinweisen wollen, geflaggt werden, wenn sie entsprechende Videos veröffentlichen. Und noch gespannter bin ich auf die Rechtsgrundlage. Ebenso bei Aussagen mit „negativen Auswirkungen auf den zivilen Diskurs oder Wahlen“.

Und was sind „Inhalte, die Essstörungen fördern“? Nähme man das Ernst, müsste man eine Plattform wie Instagram einstampfen. Jedenfalls hört man öfter, dass das dort vertretene und beworbene Körperideal nicht gerade gesund ist.

Es geht offenkundig nicht nur um illegale Inhalte

Besonders interessant wird es auch bei „Gefahr für die öffentliche Gesundheit“. Ich erinnere mich noch gut, wie Lothar Wieler, damals Chef der wichtigsten deutschen Gesundheitsbehörde, mir vorwarf, ich würde „Fakten negieren“. Auch Karl Lauterbach hatte sich auf derselben Bundespressekonferenz ähnlich zu mir geäußert, nachdem er vom Journalisten Tilo Jung auf den „Unsinn“ angesprochen wurde, den ich verbreite. 

Die vermeintlich hochgefährliche Aussage, die die Herren mir vorwarfen, lautete übrigens so: „Impfungen dienen dem Selbstschutz und nicht dem Fremdschutz.“ Ich hatte sie im Rahmen der Debatte um die allgemeine Corona-Impfpflicht getätigt. Die Aussage war und ist schlicht wahr. Das bestreitet heute kein vernünftiger Mensch mehr. Damals war das anders. Wie aber hätte ich mich gegen eine Löschung einer solchen Aussage verteidigen sollen, wenn der Bundesgesundheitsminister, der Chef des RKI und ein Journalist sie – wahrheitswidrig – als Fake darstellen?

All das macht deutlich, dass es hier mitnichten nur um die Ahndung von illegalen Inhalten geht, sondern um viel mehr. Und das ist selbstverständlich ein Problem. 

Die Idee der Freiheit als Prinzip dieses Landes

Ich liebe dieses Land. Das heißt nicht, dass ich alles, was die Regierung dieses Landes umsetzt, unkritisch sehen muss. Denn noch mehr liebe ich die Prinzipien, auf denen diese Republik fußt. Die freie Meinungsäußerung, dieses vornehmste Menschenrecht, gehört dazu. 

Die Umsetzung des DSA durch die Bundesnetzagentur ist ein direkter Angriff auf die freie Rede. Und das darf niemand schulterzuckend hinnehmen. Wenn Teile unserer Koalitionspartner sich auf der anderen Seite positionieren, ist das vielsagend und aus meiner Sicht sogar gefährlich. Aber es ändert nichts an der Notwendigkeit, dass die Bundesnetzagentur „an die Kette gelegt werden muss“, wie ich es in Bild formulierte.

Zu oft haben wir in der deutschen Geschichte einmal erstrittene Grundrechte preisgegeben. Zuerst vor 175 Jahren, was einen unglaublichen Braindrain freiheitsliebender Menschen nach sich zog. Diese Leute schufen beachtlichen Wohlstand außerhalb Deutschlands, gründeten Firmen, betätigten sich in Wissenschaft und Forschung. Die Idee der Freiheit bedingt daher auch die wirtschaftliche Entwicklung in besonderem Maße. Vielleicht versteht der Bundeswirtschaftsminister wenigstens das, wenn er schon nicht aus Überzeugung für die Freiheit gegenüber dem Chef der Bundesnetzagentur eintritt. 
 

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