Der Wahlprüfungsausschuss beschließt seine Empfehlung im November – doch danach wird das Bundesverfassungsgericht noch Monate für ein Urteil brauchen.
Sollte nach dem Berliner Wahlchaos im vergangenen Jahr auch die Bundestagswahl in der Hauptstadt wiederholt werden, dann wird das wohl nicht vor 2024 stattfinden. Das erklärte der SPD-Obmann im Wahlprüfungsausschuss des Bundestages, Johannes Fechner, am Donnerstag.
Grund dafür ist die Tatsache, dass der Beschluss des Bundestages, der am 11. November fallen soll, auf jeden Fall rechtlich angefochten wird und die Angelegenheit damit vor dem Bundesverfassungsgericht landet. Das darf sich dann mit den rund 1400 Einsprüchen auseinandersetzen, die der Wahlprüfungsausschuss in den vergangenen Monaten gesichtet hat. Dieses Verfahren kann sich womöglich bis zu einem Jahr hinziehen.
Sollte das der Fall sein, könnte ein möglicher Nachwahltermin in Berlin mit der Europawahl im Mai 2024 zusammengelegt werden. Es ist gut möglich, dass in Berlin für eine Nachwahl die Plakate von Kandidaten geklebt werden, während bereits ihre Nachfolger nominiert werden.
Auf der Landesebene geht es schneller. Der Beschluss des Landesverfassungsgerichtes, in dem es nur um die Abgeordnetenhauswahl und die Bezirksverordnetenversammlungen geht, soll am 16. November fallen. Sollte – wie erwartet – die Wahl auf Landes- und Bezirksebene komplett wiederholt werden müssen, hat dies spätestens 90 Tage nach dem Urteilsspruch zu erfolgen. Ein möglicher Wahltermin könnte dann der 12. Februar 2023 sein. Klar ist daher, dass die Berlinerinnen und Berliner zweimal wählen gehen müssen, um das Desaster vom letzten Mal wettzumachen.
Unklar ist aber, wer auf Bundesebene nachwählen darf oder muss. Im Wahlprüfungsausschuss hat dazu in den vergangenen Monaten ein wahres Hauen und Stechen stattgefunden. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Abgeordneten – zumindest die Mehrheit der Ampel-Koalition – nicht so weit gehen möchte wie der Bundeswahlleiter Georg Thiel.
Dieser sah – wie offenbar auch das Landesverfassungsgericht in Berlin – ein „komplettes systematisches Versagen der Wahlorganisation in Berlin“ und sprach sich dafür aus, dass in mindestens der Hälfte aller Berliner Bezirke die Bundestagswahl komplett wiederholt wird, also mit Erst- und Zweitstimme. Das sieht man im Wahlprüfungsausschuss anders. Für die Wiederholung der Bundestagswahl müssten Fehler einwandfrei dokumentiert und damit bewiesen sein, sagte Fechner am Donnerstag: „Alles andere sind nur Spekulationen.“
Der Wahlprüfungsausschuss hat daher auch zum Teil andere Kriterien an Wahlfehler angelegt als der Bundeswahlleiter. So erkennt der Ausschuss einen Wahlfehler erst dann an, wenn in den Wahllokalen noch nach 18.30 Uhr gewählt werden durfte. „Wir können uns nicht vorstellen, dass in ganz Deutschland überall schon um 18 Uhr Schluss war“, sagte Fechner. Sollte man so hart richten, dann könnten interessierte Gruppen sich sogar verabreden und kurz vor 18 Uhr Wahlkabinen blockieren, um die Anfechtung der Wahl zu erreichen.
Die Uhrzeit, ab wann ein Wahlfehler anzunehmen ist, so hört man aus dem Wahlprüfungsausschuss, war offenbar Gegenstand langwieriger Verhandlungen. Einige Teilnehmer hätten sich auch 19 Uhr vorstellen können – was die Zahl der Wahllokale, in denen nachgewählt werden müsste, deutlich verringerte. Die Abgeordneten, die hier gewissermaßen in eigener Sache entscheiden, hatten sich zunächst darauf geeinigt, dass die Nachwahl in 300 von insgesamt 2256 Berliner Wahllokalen angesetzt werden soll. Zudem sollte nur die Zweitstimme erneut abgegeben werden. Bei den Erststimmen würde eine erneute Stimmabgabe rein mathematisch nicht zu einer Änderung bei den Gewinnern führen.
Diese Vorgehensweise hatte aber das eigene Ausschuss-Sekretariat als problematisch gewertet. Es sei „offenkundig, dass die aktuelle Fassung der Beschlussempfehlung einer deutlichen Überarbeitung bedarf und potenziell alle Bestandteile erfasst sind“, hieß es in einer Stellungnahme.
Dazu muss man wissen, dass der Wahlprüfungsausschuss von der CSU geführt wird, einer Oppositionspartei, der an einer umfangreichen Neuwahl deutlich mehr gelegen ist als der Ampel-Koalition, die Verluste erleiden könnte.
Der Vermerk des Ausschusssekretariats, der seinen Weg zuverlässig an die Öffentlichkeit gefunden hatte, sorgte für einige Aufregung – und für ein Umdenken. Nun soll in 431 Wahllokalen neu gewählt werden, und zwar mit beiden Stimmen. Der entsprechende Beschluss sollte eigentlich am Donnerstag gefasst werden. So hatten es zumindest die parlamentarischen Geschäftsführer der drei Ampelparteien am Mittwoch angekündigt. Doch die Beschlussvorlage des Ausschusses umfasst insgesamt 200 Seiten. Es sei unmöglich gewesen, dies rechtzeitig zum Beginn der Ausschusssitzung in eine adäquate redaktionelle Form zu bringen, hieß es gestern.
Der Bundestagsbeschluss soll am 11. November fallen, einige Tage vor dem Entscheid des Landesverfassungsgerichtes. Um das einzuhalten, will sich der Wahlprüfungsausschuss am 7. November zu einer Sondersitzung treffen.
Sobald dieses Thema dann vom Tisch ist, wird der Wahlprüfungsausschuss in absehbarer Zeit womöglich noch über ein anderes diskutieren: seine eigene Auflösung. Die Querelen um das Ausmaß der möglichen Neuwahl zeigten, dass es problematisch ist, Abgeordnete über die Gültigkeit von Wahlen entscheiden zu lassen. Das sieht man auch bei den Mitgliedern des Ausschusses so. Unabhängig von der heiklen Aufgabe ist es auch ein Zeitverlust. Da die Entscheidung des Bundestages mit Sicherheit vor Gericht angefochten wird, muss das Bundesverfassungsgericht nun den gleichen Prüfvorgang wiederholen, den der Bundestag vorgenommen hat. Damit geht ein ganzes Jahr verloren.