Neue RKI-Files:

Was ist los mit den deutschen Leitmedien?

25.07.2024
Lesedauer: 9 Minuten
Von rechts: Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité Berlin, Lothar Wieler, ehemaliger Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), und Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit, bei einem Treffen der Bundespressekonferenz zur Corona-Lage. Kay Nietfeld/dpa

Anstatt die nun ohne Schwärzungen veröffentlichten RKI-Protokolle zu prüfen, werfen sich manche Journalisten schützend vor die Politik. Warum dieses Anbiedern? Ein Kommentar.

Die ersten Reaktionen der großen Medien waren schon entlarvend. Sie kamen erst am Abend des Dienstags dieser Woche, an dem die freie Journalistin Aya Velázquez frühmorgens verkündet und dann vormittags auf einer Pressekonferenz vorgestellt hatte, was eigentlich eine kleine Sensation war: Ein Whistleblower hatte ihr die kompletten RKI-Protokolle zugespielt, ohne Schwärzungen und alle Pandemie-Jahre betreffend.

Somit liegen nunmehr die schwer umstrittenen Protokolle des Corona-Expertenrats des Robert-Koch-Instituts erstmals in voller Länge und ohne politische Schwärzungen vor. Umstritten deshalb, weil der Chefredakteur des Online-Magazins Multipolar diese schon seit Jahren versucht hatte herauszuklagen und bisher doch nur in Teilen und eben mit teils erheblichen Schwärzungen Erfolg hatte. Umstritten auch deshalb, weil im März, als die ersten Teile öffentlich wurden, Politik, Öffentlichkeit und Medien schon einmal sehr uneins darüber waren, ob sich in den Protokollen nun größere Erkenntnisse und Anlässe zu Untersuchungsausschüssen oder doch eher Belege dafür fanden, dass Politik und Behörden damals ausgewogen um Erkenntnisse in der Pandemie gerungen hätten.

Doch nun liegt eben alles offen dar, dank des Whistleblowers und der auf X sehr engagierten Journalistin mit dem klingenden Pseudonym. Folgende Sätze aus den Protokollen, um nur eine wirklich kleine Auswahl zu nennen, lassen sich nicht einfach weg diskutieren:

„In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt. Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“ (RKI-Protokolle, 5. November 2021)

„Es gibt keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes, dies könnte auch für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.“ (RKI-Protokolle, 30. Oktober 2022)

„Textentwurf Christian Drosten: Empfehlung für den Herbst, Darstellung der Ideen und Einschätzung. Kontext: Der Artikel ist vertraulich. Hr. Drosten hat zwischenzeitlich entschieden, das Papier nicht zu publizieren, da ungezielte Testung im Text als nicht sinnvoll betrachtet wird und dies dem Regierungshandeln widerspricht.“ (RKI-Protokolle, 29. Juli 2020)

„Aus Altenheimausbrüchen (Exposition für alle gleich) weiß man, dass die Wirkung der Impfung eher überschätzt wird. Schwieriges Thema, sollte nicht im Impfbericht formuliert werden.“ (RKI-Protokolle, 26. Oktober 2022)

„Impfung von Kindern: Auch wenn (von) STIKO die Impfung von Kindern nicht empfohlen wird, BM Spahn plant trotzdem ein Impfprogramm.“ (RKI-Protokolle, 19. Mai 2021)

Dass es nun weiterer Anstrengungen bedarf, um die offensichtlichen Widersprüche zu klären, die sich aus den RKI-Protokollen ergeben, liegt auf der Hand. Ein Untersuchungsausschuss, wie von manchen Seiten gefordert und von politischen Hauptakteuren naturgemäß in ihrem eigenen Interesse abgelehnt, scheint wahrscheinlicher zu werden.

„Faktenchecker“ wiegeln ab, „Wissenschaftsjournalisten“ werden parteiisch

Doch was tun große Teile der Presse, deren ureigenste Aufgabe es nun wäre, sich die Protokolle genauer anzuschauen? Sie wiegeln ab.

Zunächst war auffällig, dass den ganzen Tag lang nach Erscheinen der neuen RKI-Files außer kleineren oder Alternativmedien kaum jemand berichtete, obwohl es eine – wenn auch sehr kurzfristig einberufene – Pressekonferenz dazu gab, die in Berlin etwa in Laufweite zum ARD-Hauptstadtstudio stattfand.

Erst am Abend berichteten die ersten Medien und auch die dpa zögerlich – und merkwürdig verdreht: Anstatt erst mal die Neuigkeiten zu verkünden, lauteten die ersten Meldungen, so auch beim ZDF: Das RKI sei empört über die Leaks. Damit wurde schon mal gegen die erste journalistische Grundregel verstoßen, zuallererst die Fakten zu benennen: Nämlich dass es überhaupt solche Leaks gegeben hat, von wem sie stammen und was darin zu finden ist.

Die ARD berichtete dann zwar in der Tagesschau anderthalb Minuten über die RKI-Files und ließ auch kritische Stimmen zu Wort kommen. In dem gesamten Beitrag wurde aber nicht einmal der Name der Journalistin genannt, die das ganze initiiert hatte. Das ist unseriös.

Offenbar war es dem öffentlich-rechtlichen Sender wichtiger, vorab online einen sogenannten Faktencheck zu veröffentlichen, in dem auf die schon während der Pandemie bewährte Weise alle Zweifel an der Rechtschaffenheit der Maßnahmen zerstreut wurden.

Am gestrigen Mittwoch dann bequemten sich auch die größeren Print- und Leitmedien, sich zu der Sache zu äußern – nachdem sie mit den Hauptkritisierten gesprochen und diese ihnen versichert hatten, es gebe keinerlei Anlass zur Sorge. Anstatt aber diese erwartungsgemäßen Sprechblasen zu hinterfragen, schließen sich Teile der Leitmedien diesen Narrativen einfach an – wie auch schon oft genug während der Pandemie.

Das ist besonders auffällig in einem Text der Süddeutschen Zeitung vom gestrigen Tag, in dem schon in der Überschrift steht: „Und wo soll jetzt der Skandal sein?“ Christina Berndt, die etwa während Corona auffällig oft im Fernsehen für die Impfung warb und dabei versicherte, es könne keine Langzeitwirkungen geben und man müsse daher auch keine Angst vor schweren Nebenwirkungen haben, und die trotzdem zur Wissenschaftsjournalistin des Jahres 2022 gewählt wurde, springt hier vor allem dem Berliner Charité-Virologen Christian Drosten zur Seite. Der gerade zusammen mit dem (mit der SZ einst verbandelten) Investigativjournalisten Georg Mascolo ein Buch zur Aufarbeitung geschrieben hat.

Drosten, Spahn und Lauterbach sehen kein Problem

Drosten, heißt es darin, könne sich nicht erklären, wie ein solches Zitat in die RKI-Protokolle gelangt sei, es handele sich dabei auch nicht um ein „Papier“, sondern um einen Artikel, der kurz darauf sehr wohl erschienen sei, und zwar in der Zeit.

Dass das RKI ein Problem mit dem Nutzen von Masken habe, sei ja schon lange bekannt gewesen – und auch das sieht die Redakteurin aus München offenbar bis heute anders als das RKI. Schließlich wird noch Karl Lauterbach zitiert, der es ebenfalls richtig findet, nicht allzu viel auf das Robert-Koch-Institut als beratende Behörde zu hören.

Der Gesundheitsminister wird auch vom Spiegel zitiert, der sich am späten Mittwochabend dann doch noch sehr länglich unter Zuhilfenahme von fünf Autoren damit beschäftigt, „worum es in der Diskussion über die Pandemie der Ungeimpften geht“ (Überschrift). Der Text legt aber vor allem sehr ausführlich dar, wer außer Jens Spahn (CDU) als damaliger Gesundheitsminister noch alles den bösen Satz von der angeblichen Pandemie der Ungeimpften geäußert habe, der dann leider doch gar nicht stimmte. Unter anderem nämlich der Spiegel selbst (in Form von Nikolas Blome) und als erster – laut Spiegel – schon im Juli 2022 US-Präsident Joe Biden.

Es geht in diesem Text um fast nichts anderes, als wer wann diesen Satz alles gesagt hat – und das Hamburger Magazin hilft sogar Karl Lauterbach dabei, so zu tun, als hätte nur sein Vorgänger Spahn dieses Narrativ verbreitet und nicht auch er selbst.

Warum tun diese Leute das? Warum biedern sie sich so an die Politik an und verbreiten Narrative, die ihnen helfen, sich aus der Affäre zu ziehen? Obwohl genau das Gegenteil ihre Aufgabe wäre? Nämlich als vierte Gewalt die Entscheidungsträger aus der Politik zu kontrollieren und kritisch zu hinterfragen, anstatt wie eine PR-Abteilung für die Regierenden zu fungieren? Was ist passiert mit diesen deutschen Leitmedien, die einst so unerschrocken das „Sturmgeschütz der Demokratie“ (im Falle des Spiegel) verkörperten und keine Angst davor, sondern eher Spaß daran hatten, sich mit den größten Playern im Politbetrieb anzulegen (wie eigentlich jahrzehntelang die SZ)?

Es liegt hier wohl daran, wie diese Medien selbst sich während der Pandemie verhalten haben und dass viele der dortigen Journalisten bis heute nicht wahrhaben wollen, dass sie wohl in der einen oder anderen Einschätzung, in der sie offenbar fragwürdigen Experten gefolgt sind, grundfalsch lagen.

Irren ist menschlich, aber irgendwann sollten grobe Fehler mal auffallen

Dabei ist irren menschlich und kommt täglich vor; wir alle machen Fehler. Man sollte allerdings gerade als Journalist in der Lage sein, seine eigene Einschätzung, die Weltlage, die Quellen, die Experten, politische Akteure und auch wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder neu zu hinterfragen.

Zu Beginn der Pandemie lag naturgemäß noch vieles im Unklaren. Ich selbst etwa habe auch anfangs länger an die Wirksamkeit der Maßnahmen geglaubt, um die Alten zu schützen. Ich wurde erst skeptisch, als immer stärker auf die Impfung als Allheilmittel gedrängt, die Möglichkeit von Nebenwirkungen verdrängt und schließlich das in sich unschlüssige 2G-Konzept verkündet wurde. Spätestens als sich Ende 2021 bei uns Hunderte Impfgeschädigte meldeten, war mir klar, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugehen kann.

Und da ich weiß, dass sich dieselben teils schwerst Impfgeschädigten auch an andere Verlage und Fernseh-Stationen hilfesuchend gewendet haben, dort aber in der Mehrzahl abgewiesen oder ignoriert wurden, frage ich mich: Was ist da los? Wie kann man es erstens übers Herz bringen, diese oft schweren und schlimmen Schicksale zu ignorieren und zweitens wie zuvor weiterzumachen mit der Berichterstattung über die angeblich so sicheren und wirksamen Impfstoffe und die Unhinterfragbarkeit der Maßnahmen?

Die SZ brachte es sogar fertig, erst vor kurzem, am 14. Juli, unter „Top-News“ ein Thema als neu und als aufklärerisch zu verkaufen, was Querdenker schon seit 2020, alle anderen spätestens seit 2021 kannten: Dass nämlich ein Strategiepapier des Innenministeriums schon zu Beginn der Pandemie verlangte, man müsse an die „Urangst“ appellieren, dass Menschen von Kliniken abgewiesen werden und „qualvoll zu Hause sterben“. Das ist ein Witz, damit nach vier Jahren anzukommen und es dann noch als neue Erkenntnis zu verkaufen. Soll die Aufarbeitung jetzt in diesem Tempo weitergehen?

Wiederum andere große Medien aus dem eher konservativen Spektrum, wie etwa die Welt, der Cicero, auch die Schweizer NZZ mit Dependance in Berlin, hatten während der Pandemie nach einer gewissen Übergangszeit ein feineres Gespür für Ungerechtigkeiten während der Pandemie und blickten etwas häufiger auf die Rechte der Bürger als auf Interessen der Politik. Oder kam dieser Wechsel bei manchen der Konservativen eher mit dem Wechsel der Bundesregierung, Ende 2021?

Jedenfalls berichten Letztere, wenn auch wieder mit einiger Verzögerung, inzwischen auch wieder gewohnt kritisch über die neuesten RKI-Files, was immerhin eine gute Sache ist.

Wie große Medien Vertrauen verspielen

Nichtsdestotrotz lässt sich dieser Trend auch abseits von Corona beobachten, und hier auch eher über die politischen Lager hinweg: Gerade die großen Medien und der ÖRR, die eigentlich aufgrund ihrer personellen und finanziellen Kapazitäten in der Lage wären, besonders gute unabhängige journalistische Arbeit zu leisten, scheinen in vielen großen Debatten unserer Zeit zu versagen und sich immer öfter an von der Regierung vorgegebene Narrative zu klammern und sie bisweilen bis aufs Blut – auch gegen Leser oder Zuschauer – zu verteidigen.

Oder, wie es am Mittwoch ein User auf X formulierte, im Zuge der Debatte, warum ein Whistleblower des Robert-Koch-Instituts sich lieber an eine unabhängige Journalistin wendet als etwa an den Spiegel oder die Zeit: „Guten Tag, liebe Leser. Wir haben während der Corona-Krise als Kritiker und Korrektiv staatlicher Entscheidungen versagt und beschlossen, dieses Versagen bis heute zu verschleiern. Wir befinden uns in Abwicklung. Wir werden ersetzt durch kleinere unabhängigere Formate.“

Das ist zwar ziemlich sarkastisch formuliert, aber ich fürchte, es trifft es ganz gut.

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