Der Soziologe und Bestsellerautor Hartmut Rosa lebt mitten im Höcke-Land Thüringen. Im Interview spricht er über Rechtspopulismus, Selbstwirksamkeit und das Gefühl der Entfremdung in Ostdeutschland.
Prof. Hartmut Rosa ist teilnehmender Beobachter beim Siegeszug des Rechtspopulismus. Denn: Der Bestsellerautor und Top-Soziologe, gebürtig aus Baden-Württemberg, lebt und lehrt seit über zwei Jahrzehnten in Jena an der Friedrich-Schiller-Universität – also mitten im Höcke-Land.
Der AfD in Thüringen werden für die Landtagswahl im September derzeit rund 30 Prozent und damit der Wahlsieg vorhergesagt.
Deshalb habe ich Hartmut Rosa in einem ausführlichen Gespräch, das am Wochenende als Sonderpodcast erschien, befragt. Es geht dem Wissenschaftler nicht ums Verurteilen, sondern ums Verstehen. Hier die wichtigsten Fragen und die dazugehörigen Antworten.
Pioneer: Die AfD ist nicht die Lösung. Aber ist sie vielleicht die Werkssirene, die uns einen Fehler im System anzeigt?
Prof. Hartmut Rosa: Das ist eine Fehlermeldung und als solche muss man sie ernst nehmen. Ja, irgendwas stimmt hier nicht. Ich glaube, dass es sogar mehrere Hinsichten gibt, in denen etwas nicht stimmt.
„Moralische Diskreditierung anderer Meinungen, sehe ich als eines der Probleme“
Die traditionellen Medien und insbesondere die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind ins Zentrum der Kritik geraten. Zurecht?
Auch auf der Linken gibt es viele Leute, die eine ähnliche Wahrnehmung haben, dass es so etwas wie eine konzertierte Regierungselite gibt, die mit den Medien unter einer Decke steckt und und denen nicht zu trauen ist.
Bei der Coronakrise, beim Impfen, beim Thema Masken, aber auch im Ukraine-Krieg oder beim Nahostkonflikt gab es eine Tendenz, eine bestimmte politische Positionierung als die richtige anzusehen und sie mit einem moralischen Moment zu verbinden.
Es gibt eine wahre und gute Position und eine menschenfeindliche sozusagen. Und das ist, glaube ich, ein Problem, das sich in unserem Diskursraum entwickelt hat, ohne dass es deshalb gelenkte Staatsmedien wären.
Die Meinung des anderen wird nicht geschätzt, sondern bekämpft?
Ein Problem ist, dass man die abweichende Meinung moralisch verächtlich macht. Jürgen Kaube zum Beispiel in der „FAZ“ schreibt: Mützenich, der SPD-Fraktionschef, sei eine verächtliche Figur der deutschen Politik und er wirft ihm Feigheit vor, nur weil er darüber nachdenkt, ob man vielleicht den Krieg in der Ukraine einfrieren kann. Diese Art der moralischen Diskreditierung anderer Meinungen, die man eben auch in Leitmedien oder in den Rundfunkanstalten findet, sehe ich als eines der Probleme.
Die Medienkritik allein kann es doch nicht sein, oder?
Ich nehme diesen Hang zu rechtspopulistischer Opposition als Ausdruck einer tiefgehenden Entfremdung wahr und damit als den Verlust eines Resonanzraumes. Demokratie funktioniert nur da, wo Bürgerinnen und Bürger einander hören und aufeinander achten, sich auch zutrauen, aufeinander antworten zu können. Wir erleben den Ausdruck einer tiefgehenden Entfremdung, wo Menschen das Gefühl haben, die Institutionen, die Eliten, auch das, was sie als Staatsmedien wahrnehmen, leben in einer abgehobenen Welt, die wir nicht erreichen können. Das ist fehlende Selbstwirksamkeit.
„Selbstwirksamkeitserfahrung ist in Ostdeutschland stark untergraben worden“
Können Sie diese fehlende Selbstwirksamkeit als Zeitphänomen genauer beschreiben?
Sie bedeutet: Ich spiele keine Rolle in dem System und die meinen mich auch nicht. Es kommt zu einer resonanz-technischen Entfremdung. Wir erleben ein Handeln im Aggressionsmodus, wo man den anderen nicht hören will. Der soll still sein. Der soll weggehen. Oder er soll eingesperrt oder mindestens gecancelt werden. Meine Diagnose besagt, dass dieses Verhalten aus einer Erfahrung fehlender Selbstwirksamkeit resultiert.
Resonanz bedeutet in diesem Zusammenhang was?
Resonanz bedeutet nicht nur, dass ich Rezipient bin, ich also den anderen hören will, sondern dass ich mir zutraue, meine eigene Stimme dagegenzusetzen. Nicht im Sinne von, dass ich dem anderen sage „Halt’s Maul“, sondern dass wir uns gemeinsam bewegen können. Und ich glaube, diese Selbstwirksamkeitserfahrung ist in Ostdeutschland stark untergraben worden.
Wodurch ist dieses Gefühl der Entfremdung in Ostdeutschland entstanden?
Wohl auch deshalb, weil im Zuge der Transformation nach 1990 westliche Institutionen einfach importiert wurden. Selbst die Gebäude wurden einfach hingestellt und es wurde verlangt, dass die Menschen dafür dankbar sein sollten. Damit geht keine Selbstwirksamkeitserfahrung einher.
Können Sie diese fehlende Selbstwirksamkeit in Ihrem Alltag als Professor der Soziologie in Thüringen beschreiben?
Wir haben hier vom Studentenwerk in Thüringen ein Gästehaus in Sonneberg. Das ist der Wahlkreis, wo wir im Landkreis einen AfD-Landrat haben. Das ist ein ländlicher Raum, mit einer dörflichen Struktur, wo die Menschen das Gefühl haben, dass sie in einer Art von prekärer Gemeinschaft leben, die schon deshalb prekarisiert ist, weil die jungen Leute wegziehen. Und jetzt greift der Staat von außen ein und setzt zum Beispiel ein Flüchtlingsheim dahin. Es ist das Gefühl, da wird die schützende Hülle des Kleinen von außen durchbrochen.
„Heizungsdebatte ist eskaliert, weil Leute das Gefühl hatten, jetzt greift diese Hand in mein Haus ein“
Und dieses Muster wiederholt sich?
Deshalb ist die Heizungsdebatte so eskaliert, weil die Leute dort das physische Gefühl hatten, jetzt greift diese Hand in mein Haus ein und holt mir die Heizung raus. Dazu passt die Angst vor der Impfung. Die Hand des Staates greift in meinen Körper. Die spritzen mir da was rein. Und mit den Sprachregelungen gehen sie in mein Gehirn und wollen mir vorschreiben, wie ich denke und rede. Das ist die Wahrnehmung, das ist die Grundbefindlichkeit, die dann das politische Denken motiviert.
Vielleicht ist ja der Osten gar kein Ausnahmefall, sondern nur eine Art Frühwarnsystem für ein fundamentales Problem?
Ich würde der Diagnose zustimmen. Ein Indikator dafür ist, wenn Politiker sagen, sie erreichen die andere Seite nicht, auch weil ich niedergeschrien werde. Wir haben es mit einer Resonanzkrise zu tun.
Das bedeutet?
Der wechselseitige Resonanzraum des Hörens und Antwortens ist beschädigt. Für diesen Befund ist es wichtig, zu verstehen: Resonanz bedeutet nicht Echo, dass wir alle das Gleiche denken und auf die gleiche Weise glauben und lieben und leben, sondern dass man Differenz, das Anderssein des Anderen nicht als ein Problem wahrnimmt, sondern als Chance und Herausforderung.
Ich habe bei Ihnen den Begriff „Gegenwartsschrumpfung“ gelesen, der zwar nicht von Ihnen stammt, aber Sie machen ihn sich zu eigen. Was bedeutet dieses Wort?
Heute benutzt man Zoom oder andere digitale Technologien. Früher hat man nur das Telefon gehabt. Dieses Heute hat die Tendenz zu schrumpfen, weil sich alles ständig ändert. Jemand fährt einmal im Jahr nach Dresden und stellt fest: Die Welt sieht schon wieder anders aus. Die Tatsache, dass die Halbwertszeit der Bestehenszeit schrumpft, führt zu einer Entfremdungserfahrung, die ebenfalls Selbstwirksamkeit untergräbt. Hinzu kommt eine Zukunftserwartung, die eher düster ist. Bis dahin hatte die Mehrheit der Menschen das Gefühl: Wir arbeiten hart, um unseren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
… was ja auch lange Zeit sehr gut geklappt hat.
Die Zukunft war eine Verheißung, auf die wir uns zubewegen. Aber genau dieses Gefühl haben wir heute ganz stark verloren. Ich finde, dass kann man an dem Leitspruch der Zeitenwende gut erkennen. Die gegenwärtige Überzeugung, die in den Medien und in der Politik vertreten wird, ist, dass diese optimistische Grundannahme illusorisch war.
„Wenn das Aktuelle nicht mehr taugt, liegt es nahe, sich am Alten zu orientieren“
Wie begründet sich dieser neudeutsche Pessimismus?
Wir müssen uns – heißt es jetzt allenthalben – auf Kriege, Konflikte, Konfrontation und Rüstung einstellen. Wenn man auf diese Weise das Zukunftsbild und auch das Vergangenheitsbild verliert, wenn die Vergangenheit sich nämlich gar nicht mehr als Fortschrittsgeschichte, sondern als Geschichte des Kolonialismus, Sexismus, Imperialismus, der Homophobie und so weiter darstellt, dann verlieren wir diesen positiven geschichtlichen Resonanzraum – und dann verschwindet auch die Neugier auf das Neue.
Lässt sich dadurch auch begründen, warum ein Teil der Gesellschaft auf das Identitäre, auf Vergangenheit, letztlich auf den Sound des Dritten Reiches umgeschaltet hat?
Wenn man der Logik folgt, die wir gerade entwickelt haben, würde ich sagen, ist es eigentlich nicht überraschend: Wenn das Aktuelle nicht mehr taugt, liegt es nahe, sich am Alten zu orientieren.
Aber gerade das Alte, das Dritte Reich insbesondere, war so unattraktiv, so inhuman, so unethisch und auch ökonomisch nicht erfolgreich. Warum finden so viele Menschen in Thüringen das attraktiv und nicht abstoßend?
Leider ist es so, dass die empirische Sozialforschung zeigt, dass Leute nicht trotz Höcke, sondern auch wegen ihm die AfD wählen. Seine AfD verkörpert den höchsten Provokationswert. Ein weiterer Erklärungsfaktor ist die Xenophobie, also die Ablehnung des Anderen. Die ist gerade dann besonders hoch ausgeprägt, wenn man sich des Eigenen ungewiss ist. Dieser manifeste Rassismus und damit die Ablehnung alles Fremden, kommt aus fehlender Selbstwirksamkeitserfahrung.
Was stimmt sie trotz dieser apokalyptischen Diagnosen zuversichtlich?
Wir sind ganz offensichtlich in einer Krise, die ziemlich tief geht. Aber ich glaube, dass es gar nicht viel bedarf, um einen Wandel zu erzielen. Bei der AfD zum Beispiel sieht man ganz deutlich einen Wutmodus. Aber das ist kein glücklicher Zustand. Das ist nichts, in dem Menschen verharren wollen. Ich glaube daher, es gibt eine tiefe Sehnsucht, dass sich das wieder ändert.