Nach Enthüllungen

RKI-Protokolle: Warum die Medienaufsicht gegen Multipolar vorgeht

29.08.2024
Lesedauer: 7 Minuten
Der Eingang zum Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin: Es gibt neuen Ärger um die RKI-Protokolle, das Onlinemagazin Multipolar und Herausgeber Paul Schreyer. dpa

Es geht um Berichterstattung über die RKI-Protokolle, aber auch um ältere Beiträge. Herausgeber Schreyer gerät gerade unter Druck. Greift eine Landesmedienanstalt die Meinungsfreiheit an?

„Unvermittelt wirft die nordrhein-westfälische Medienaufsicht unserem Magazin ‚Verstöße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht‘ vor und droht schriftlich mit einem ‚förmlichen Verwaltungsverfahren‘“, schreibt Paul Schreyer am Dienstag, und weiter: „Bemängelt werden teils mehrere alte Beiträge, die die Regierungssicht auf Corona in Frage stellen.“

Tatsächlich hat die Landesmedienanstalt NRW dem Herausgeber des Multipolar-Magazins, der die RKI-Protokolle freigeklagt hatte, am Freitag einen Brief geschrieben, der der Berliner Zeitung vorliegt. Darin geht es um vier Beiträge, von denen sich einer auf die RKI-Protokolle bezieht.

Die Medienaufsicht wirft Schreyer darin vor, verbreitet zu haben, dass die im März 2020 vom Robert-Koch-Institut verkündete Verschärfung der Risikobewertung von „mäßig“ auf „hoch“ nicht auf einer fachlichen Einschätzung des RKI, sondern auf politische Anweisung eines externen Akteurs gefußt habe. Auf diese Hochstufung folgten später die Lockdownmaßnahmen, auch die zugehörigen Gerichtsurteile wurden damit begründet.

Tatsächlich stellte sich später heraus, dass hinter dem geschwärzten Namen kein politischer Akteur, sondern der damalige stellvertretende und heutige Leiter des RKI steckte, Lars Schaade. Allerdings konnte das damals noch kein Medium wissen, da die Daten eben geschwärzt waren, und zwar vom RKI selbst bzw. dessen Anwälten. Die Schwärzungen gingen zum Zeitpunkt des Erscheinens des nun von der Landesmedienanstalt gerügten Multipolar-Textes über Tausende Passagen und waren so umfangreich, dass Spekulationen über den Inhalt wohl eher nicht zu vermeiden waren.

Multipolar hatte spekuliert, Lauterbach ebenso

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte nach Veröffentlichung der ersten, stark geschwärzten RKI-Protokolle durch Paul Schreyer zunächst selbst zusammen mit dem gesundheitspolitischen Sprecher der Grünen, Janosch Dahmen, spekuliert, bei den „sogenannten RKI-Files“ handele sich um die „Einmischung fremder Regierungen“. Kurz darauf verkündete er, er werde die Protokolle selbst entschwärzen lassen, es handele sich hier vor allem um die Schwärzung der Namen von Mitarbeitern zu deren Schutz.

Auch diese Behauptung erwies sich als falsch – spätestens mit Veröffentlichung der komplett ungeschwärzten RKI-Files des Whistleblowers über die Berliner Journalistin Aya Velázquez. Seither mehrte sich der Unmut über eine politische Einflussnahme etwa der beiden Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Lauterbach auf das RKI, die aus den ungeschwärzten Protokollen herauszulesen ist.

Auf die Ankündigung der Landesmedienanstalt, gegen Multipolar wegen einzelner Texte vorzugehen, gibt es daher seit Montag Aufregung unter anderem im Netz. „Kann mich gar nicht erinnern, was die Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein seinerzeit dem Spiegel im Fall Relotius angedroht hat“, schreibt ein User. Andere fragen, wo denn umgekehrt gegen Unwahrheiten, die etwa Lauterbach während der Pandemie verbreitet habe, vorgegangen werde. Oder gegen etwa öffentlich-rechtliche Medien, die teils mit sogenannten Faktenchecks angebliche Verschwörungstheorien entkräften wollten, die sich später doch als wahr herausstellten. Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler twittert: „Landesmedienanstalten haben eine wichtige Aufgabe: Sie sollen die Meinungsfreiheit schützen. Hier passiert das Gegenteil: Eine Landesmedienanstalt greift die Meinungsfreiheit an.“

„Retourkoutsche“ wegen der RKI-Protokolle?

„Landesmedienanstalt schikaniert Multipolar“, titelt gar das Portal „Nachdenkseiten“ und fragt, ob das Vorgehen eine „Retourkutsche“ wegen der „wichtigen Enthüllungen durch das Magazin zu den RKI-Protokollen“ sei. Es zeige einen „neuen Gipfel der Doppelstandards“: „Würde eine solche inhaltliche Strenge und eine so fragwürdige inhaltliche Eindeutigkeit an zahllose Beiträge in großen Medien“ zu diesen und anderen kontroversen Themen gestellt, „die jeweils verantwortlichen Gremien kämen aus den Beanstandungen gar nicht mehr heraus“.

Beanstandet werden neben diesem Text von der Landesmedienanstalt noch drei weitere, unter anderem ein Text über Sterblichkeit und Impfung vom März 2023. Darin werde fälschlicherweise behauptet, dass die Impfung gegen Corona nutzlos oder gar schädlich gewesen sei. Stattdessen gehe, so die Behörde, aus den darin vorgestellten Zahlen der offiziellen britischen Statistikbehörde hervor, dass die Impfungen gegen Corona „in vielen Fällen vor einem Tod durch Covid-19“ schütze und „dass eine Impfung medizinisch sinnvoll ist“.

Letzteres ist aber wiederum offenbar so auch nicht ganz richtig, wie erst kürzlich ein Gastautor in der Berliner Zeitung zu just diesem Thema schrieb, der sich ebenfalls mit genau diesen Daten aus England auseinandergesetzt hat: Günter Kampf, Professor für Hygiene und Umweltmedizin in Greifswald, schloss aus den Daten, dass die Sterblichkeit außerhalb von Covid-19 bei den Geimpften während der Pandemie teils deutlich höher als bei den Ungeimpften war. Deshalb könnten die Corona-Impfstoffe als Ursache für die seit 2021 zu verzeichnende Übersterblichkeit nicht ausgeschlossen werden. Mit anderen Worten: Eine Impfung gegen Corona wäre somit nicht in jedem Falle medizinisch sinnvoll und auch nicht für jeden ungefährlich.

Kampf fragt in der Berliner Zeitung, warum dies nicht weiter untersucht werde, und er ist mit dieser Frage nicht alleine. Die Übersterblichkeit ist nach wie vor nicht geklärt. Und es gibt weitere Fragen rund um die Corona-Pandemie, die weiterhin ungeklärt sind, unter anderem jene, ob die Maßnahmen gegen Corona mehr Schaden als Nutzen geboten haben. Auch zu diesem Thema hat die Landesmedienanstalt bei Multipolar einen Text gefunden, den sie bemängelt.

Die Themen sind weiterhin umkämpft

Schlussendlich geht es um einen Berliner Feuerwehrmann, der im Juni für Multipolar interviewt wurde und sagte: „Im Nachhinein muss ich sagen: Man wollte aber kopflose Panik verbreiten und man hat es geschafft. Ich habe natürlich gesehen, dass es überhaupt keinen Grund für die Angst gab, weil ja die Krankenhäuser frei waren.“ Die Landesmedienanstalt bemängelt: Es gebe „stichhaltige Belege dafür, dass in der Hochzeit der Pandemie viele Krankenhäuser unter erheblichen Kapazitätsengpässen litten“. Die Lage sei während der Pandemie immer wieder kritisch gewesen.

Ein Medium müsse zwar nicht alle Aussagen eines Interviewpartners überprüfen. Wenn allerdings erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Aussage des Interviewten bestünden, gebiete die journalistische Sorgfaltspflicht, etwaige Falschbehauptungen unmittelbar einzuordnen, rügt die Landesanstalt. 

Auch hier begibt sich die Behörde auf umkämpftes Terrain: Gerade in Berlin haben sich schon während der Pandemie immer wieder Feuerwehrleute mit diesen und ähnlichen Einwänden zu Wort gemeldet, damals noch anonym, weil es hieß, sie bangten um ihre Jobs.

Doch bezüglich der wegen Personalmangels auch vor und nach der Pandemie ständig überfüllten und deshalb auch oft beim Rettungsdienst abgemeldeten Notaufnahmen in vielen deutschen Großstädten gab es noch nie eine politisch ausgerufene Notlage – trotz zahlreicher Opfer dieser Umstände.

Es steht deshalb nun wieder, wie auch schon bei den RKI-Protokollen, der Verdacht der politischen Einflussnahme im Raum, diesmal auf die journalistische Berichterstattung.

Multipolar schreibt selbst zu dem Fall: „Laut Eigendarstellung ist die LfM dafür da, ‚die Meinungsfreiheit in Medien zu wahren‘ Der offizielle Slogan der Behörde lautet: ‚Der Meinungsfreiheit verpflichtet‘. Man sei generell ‚staatsfern‘.“ Ein ehemaliger Leiter der Landesanstalt für Medien habe allerdings „schon vor Jahren klargestellt, die Staatsferne der Landesmedienanstalten sei eine ‚schöne Fiktion‘“.

Ist der Medienstaatsvertrag verfassungsgemäß?

„In der Realität konnte man eine große Politiknähe beobachten, weil Struktur, Spitzenpersonal und Aufgabenstellung der nordrhein-westfälischen Medienanstalt immer wieder parteipolitischen Interessen unterworfen wurden bzw. politische Beeinflussungsversuche stattfanden“, wird dort der Historiker Jürgen Brautmeier zitiert, der die Landesmedienanstalt bis 2016 selbst geleitet hat.

Für Multipolar ist die Behörde in NRW zuständig, weil als Sitz Greven im Münsterland angegeben sei. Das Onlinemagazin weist darauf hin, dass es im vergangenen Jahr eine Recherche zu den Landesmedienanstalten veröffentlicht hatte, in der es darum ging, ob Paragraf 19 des Medienstaatsvertrags verfassungsgemäß sei. In dem Gesetz, das 2020 in Kraft getreten ist, geht es vor allem darum, dass auch Onlinemedien eine journalistische Sorgfaltspflicht haben und die Landesmedienanstalten deren Einhaltung überwachen können. Der Medienrechtler Wolfgang Lent hatte darin betont, dass nicht klar definiert sei, wer unter das Gesetz falle, und dass die Kontrollfunktion von Journalismus ausgehebelt werde, „wenn Journalisten bei ihrer Recherche Rücksicht auf Staatsbelange nehmen“ müssten. Lent sagte 2023 zu Multipolar: „Eine Behördenaufsicht über die Einhaltung von Sorgfaltspflichten führt gerade in diesen Fällen zu inakzeptablen Rahmenbedingungen der online-journalistischen Arbeit.“

RKI wehrt sich gegen Vorwurf der nachträglichen Änderung von Protokollen

Und es gibt weiteres Ungemach für Multipolar: Die Berliner Zeitung hatte zuletzt darüber berichtet, dass Paul Schreyer dem Robert-Koch-Institut vorwirft, die RKI-Protokolle teils massiv geändert zu haben, bevor es sie über Anwälte an ihn heraus gab. Der Datenanalyst Tom Lausen hatte dies für das Onlinemagazin analysiert. Auch gegen diesen Text wird nun vorgegangen, und zwar vom RKI selbst. Zwei Mitarbeiterinnen des Instituts, das dem Gesundheitsministerium unterstellt ist, gehen dabei anwaltlich gegen die Berichterstattung von Multipolar und auch Springer über den Sachverhalt vor und haben auch die Berliner Zeitung zur Unterlassung aufgefordert. 

Transparenzhinweis: Bis zur rechtlichen Klärung haben wir den Beitrag über diesen Vorgang vorsorglich depubliziert. Das sagt zu diesem Zeitpunkt nichts über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Vorwürfe aus.

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