Internationale Pressestimmen

„Man darf es den deutschen Wählern nicht vorwerfen“, schreibt das „Wall Street Journal“

03.09.2024
Lesedauer: 7 Minuten
Quelle: AFP/TOBIAS SCHWARZ

Das Ergebnis der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sorgt international für Aufsehen. Italienische Medien sorgen sich um den „Wirbelsturm“, der über den Kontinent fegt. US-amerikanische Medien nehmen Kanzler Scholz in den Fokus. Die internationalen Pressereaktionen im Überblick.

Die AfD triumphiert im Osten, ohne die BSW ist keine Regierungsbildung möglich: Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen werden auch im Ausland viel diskutiert. In einer italienischen Zeitung ist zu lesen, Putin sehe nun seine „fünfte Kolonne im Osten Deutschlands gestärkt“. Das „Wall Street Journal“ kommentiert, man dürfe den Wählern nicht vorwerfen, keine Geduld mehr mit ihren „dysfunktionalen Regierungsparteien“ zu haben.

Die internationalen Pressestimmen im Überblick:

„La Stampa“, Italien:

„Wenn zu Thüringen und Sachsen am 22. September auch noch Brandenburg hinzukommt, ein traditionell sozialdemokratisches Bundesland, wird es für Olaf Scholz schwierig, die therapeutische Verbissenheit fortzusetzen, um im Kanzleramt zu überleben.“ Betroffen sei nicht weniger als das Herz der europäischen Integration: „Wie sollen angesichts eines Frankreichs, das noch immer nach einer Regierung sucht, und eines Deutschlands mit zerrütteten Mehrheitsverhältnissen die Vereinbarungen gestaltet werden, die in der Vergangenheit die größten Fortschritte in der europäischen Politik gebracht haben?“, fragt die italienische Tageszeitung.

Und weiter: „Dass Ursula von der Leyen in ihrer Rolle als Präsidentin der EU-Kommission mehr sein könnte als eine Bastion des Widerstands gegen rechte Vorstöße und die Brüchigkeit ihrer eigenen Regierung, ist schwer vorstellbar. Stattdessen sieht nun Wladimir Putin seine fünfte Kolonne im Osten Deutschlands gestärkt.“

„Corriere della Sera“, Italien: „Aus dem Wirbelsturm der beiden Landtagswahlen geht ein anderes Land hervor, ein anderes Deutschland.“ In Erfurt und Dresden vertraue eine Mehrheit der Bevölkerung ihre Enttäuschungen und Frustrationen zwei populistischen Parteien an, „der nationalistischen und fremdenfeindlichen Ultra-Rechtspartei AfD sowie der neo-peronistischen Hybridpartei BSW, der politischen Kreatur von Sahra Wagenknecht, die prorussischen Pazifismus, wirtschaftlichen Statismus und harte Anti-Einwanderungspolitik miteinander verbindet.“

„34 Jahre nach der Wiedervereinigung und Tausender Milliarden Euro, die in die ehemalige DDR investiert wurden, eine Mehrheit der Bevölkerung in den beiden Bundesländern keine Loyalitätsbindungen zu den traditionellen Parteien hat. Deren Entscheidungen akzeptieren sie nicht, deren Codes verstehen sie nicht, vielleicht teilen sie nicht einmal deren Konzept der Demokratie. Sie fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse oder, schlimmer noch, als Ausländer in ihrer Heimat.“

„La Repubblica“, Italien: „Die europäischen institutionellen Systeme sind infiltriert. In Italien, in Frankreich und nun immer unverhohlener in Deutschland.“ Während sich der alte Kontinent auf dem schmalen Grat eines möglichen Kriegs und eines Infarkts der Demokratie bewege, müsse er sich zugleich mit einem inneren Feind auseinandersetzen. „Der Keim des Putinismus wächst sogar in strukturierten Ländern mit einer soliden demokratischen Tradition. Was in den beiden deutschen Regionen geschehen ist, ist der jüngste Beweis“, fasst die italienische Tageszeitung zusammen.

„Russlands Präsident hat einen außergewöhnlichen und beunruhigenden politischen Sieg errungen. Die ‚faschistische‘ rechte AfD und die nostalgische Linke sind zusammen mit anderen europäischen Formationen wie dem Rassemblement National in Frankreich oder der Lega in Italien seine Vorposten in der EU. Die Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Krieg in der Ukraine wird durch ein scheinbares Streben nach Frieden kaschiert.“

„Polityka“, Polen: „Die Ergebnisse dieser Landtagswahlen bedeuten ein Erdbeben für die deutsche Politik. Als unmittelbare Folge wird es Probleme bei der Bildung der Landesregierungen geben, insbesondere in Thüringen. Diese Probleme werden sich über den Bundesrat, dessen Mitglieder von den Ländern bestimmt werden, auch auf die Bundesebene übertragen. Natürlich wird dies nicht zu einem Zusammenbruch des Systems führen. Sachsen und Thüringen haben zwar jeweils vier Vertreter im Bundesrat (also insgesamt 8 von 69 Mitgliedern), aber die Mehrheitsfindung für die von Streitereien gebeutelte Scholz-Koalition wird noch schwieriger sein als bisher.

Mehr als 40 Prozent der Stimmen in Sachsen und fast die Hälfte in Thüringen gingen an die offen systemfeindlichen Parteien AfD und BSW. Allein die AfD dürfte in beiden Bundesländern mehr als ein Drittel der Sitze gewinnen und damit eine Sperrminorität erlangen. Sie wird ein Mitspracherecht bei der Ernennung von Richtern und ein Vetorecht im Falle eines Ausnahmezustands oder einer Änderung der Landesverfassungen haben. Die Frage des Einflusses auf die Justiz bereitet Kommentatoren Sorge, sie ziehen Vergleiche mit der Ära der (nationalkonservativen) PiS-Regierung in Polen.“

„Die Wähler haben die Nase voll von Olaf Scholz“

„Wall Street Journal“, USA: „Die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Sachsen und Thüringen sorgen für weitere Bestürzung auf einem Kontinent, der bereits durch den Niedergang der traditionellen Parteien und den Aufstieg der Aufständischen verunsichert ist. (…) Das größere Problem ist, was der gemeinsame Aufstieg der AfD und der BSW über den Kollaps der Regierungsparteien in Deutschland aussagt.“

„Die Wähler haben die Nase voll von Olaf Scholz und einer Koalition, die Migration nicht steuern kann und sich trotz des greifbaren und wachsenden wirtschaftlichen Schadens an Klimazielen festklammert.“

Damit blieben laut dem „Wall Street Journal“ als einzige Mainstream-Alternative zu den Aufständischen nur noch die Christdemokraten (die CDU und Bayerns CSU). Und weiter: „Man darf es den deutschen Wählern nicht vorwerfen, keine Geduld mehr mit ihren dysfunktionalen Regierungsparteien zu haben. Man sollte den Vorwurf den etablierten Politikern machen, die zu langsam sind und Nabelschau betreiben, während der Frust der Wähler steigt.“

CNN, USA: „Zum ersten Mal seit 1945 kann eine rechtsextreme Partei in Deutschland bei den Landtagswahlen gewinnen.“ Während die AfD die Einwanderungsfrage in den Mittelpunkt ihrer Agenda gestellt hätte, habe die von Bundeskanzler Scholz aufgebaute Koalition geächzt. „Es gibt interne Streitigkeiten, Meinungsverschiedenheiten über die Politik und es wird angeklagt, dass gewählte Amtsträger nicht mehr die Werte vertreten, für die sie ursprünglich gewählt wurden.“

„New York Times“, USA: „Die Landtagswahlen können als ein besorgniserregender Indikator für den Zustand und die Zukunft der deutschen Demokratie angesehen werden. Diese Ergebnisse könnten die Debatte darüber, ob und wie die etablierten Parteien extremistische Kräfte isolieren und daran hindern können, in die Regierung zu gelangen, weiter verschärfen.

Für die die drei Parteien in der Regierungskoalition unter Kanzler Olaf Scholz stellen die Ergebnisse eine zusätzliche Belastung dar. Schon jetzt scheint klar, dass viele ostdeutsche Wähler die Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums belohnt und die regierende Koalition in Berlin abgestraft haben. Dies unterstreicht die anhaltenden Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands, auch so viele Jahre nach der Wiedervereinigung.“

„Financial Times, Großbritannien: „Die Ergebnisse spiegeln die wachsende Frustration in Ostdeutschland über eine Regierung wider, die viele mit hoher Inflation, wirtschaftlicher Stagnation, steigenden Energiekosten und ständigen internen Streitigkeiten assoziieren. Sie zeigen aber auch, dass die Wähler zunehmend die Mitte zugunsten populistischer Parteien an den politischen Rändern verlassen. (…)

Es hat sich gezeigt, dass 34 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung eine Mehrheit der Menschen in zwei Regionen des ehemals kommunistischen Ostens des Landes enttäuscht sind von den etablierten Parteien der Mitte und frustriert sind von der Art und Weise, wie Deutschland regiert wird. (…)

Das katastrophale Abschneiden der drei Parteien in der Koalition von Olaf Scholz – SPD, Grüne und FDP – hat zu Spekulationen geführt, dass eine von ihnen aus der Regierung ausscheiden und damit Neuwahlen auslösen könnte. Experten halten das jedoch für unwahrscheinlich. Denn alle drei Parteien schneiden in den Umfragen landesweit so schlecht ab, dass sie kaum Lust haben dürften, sich vor der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2025 den Wählern zu stellen.“

Hier finden Sie alles zu den Landtagswahlen

Thüringen-Wahl 2024: Alle Ergebnisse im Überblick

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Lesen Sie in unserem Liveticker alle aktuellen Entwicklungen zu den Landtagswahlendpa/saha

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