Wie gefährdet ist die Demokratie in Deutschland? Vor der Landtagswahl am 1. September ruft das ZDF den „Testfall Thüringen“ aus. Dem öffentlich-rechtlichen Real-Grusel kommt der AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke gerade recht. Und am Ende stellt sich nicht nur mir eine Gewissensfrage.
Willkommen zum öffentlich-rechtlichen Real-Grusel! Seit dem 19. Jahrhundert gilt das Bundesland Thüringen als „das grüne Herz Deutschlands“. Jetzt im 21. Jahrhundert ist es zum „Testfall Thüringen“ geworden und das „ZDF“ wirft am Beispiel des nur zwölftgrößten Bundeslandes die riesengroße Frage auf: „Demokratie in Gefahr?“
Das ist, sagen wir es vorsichtig: reißerisch. Mir geht das Wort vom „Dunkeldeutschland“ durch den Kopf, wie es der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck geprägt hat.
„Ein Faschist will die Macht!“
Das ZDF nimmt seine Zuschauer mit nach Schleusingen in Südthüringen, es geht zurück ins Jahr 2023. Es wird tatsächlich finster. Der Fernsehzuschauer sieht Schilder wie „Masseneinwanderung stoppen!“ und „Heimatliebe ist kein Verbrechen“. Er sieht Menschen auf der Straße, denen es Angst macht, wenn in ein ehemaliges Krankenhaus bis zu 500 Geflüchtete einziehen sollen.
Die Kleinstadt hat kaum mehr als 5000 Einwohner. Wenn jeder Zehnte von weither kommt, sind Sorgen nachvollziehbar. Ein Mann mit Kurzhaarschnitt brüllt ins Mikrofon. Er reklamiert „den Willen des Volkes“ für sich. Volkes Wille ist die Demokratie. Der wird sich bei der Landtagswahl am 1. September zeigen. „Rauskommen könnte, „dass Björn Höcke Thüringen regiert“, sagt die „ZDF“-Sprecherin, „ein Faschist will die Macht.“ Da ist erst der Vorspann vorbei.
Thüringer haben kein Extremismus-Gen
Zu Wort kommt Stephan Kramer, der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes. Er verteidigt sein Land: „Es gibt sicher kein Gen, das die Thüringer in sich tragen, das sie automatisch zu Anfälligen macht für Extremismus von links wie rechts.“ Gleich danach zeigt das „ZDF“ Bilder aus dem „großen TV-Duell“ im Kleinsender „Welt TV“, wo sich CDU-Spitzenkandidat und Björn Höcke vor die Kameras gestellt hatten. „Irgendwann sind’s die Brillenträger, die Sie raushaben wollen“, wirft der CDU-Mann der personifizierten Gefahr von rechts vor.
Der Thüringer Verfassungsschützer sieht den Auftritt nüchtern. „Wir haben Meinungsfreiheit“, befindet er, „und Meinungsfreiheit gilt leider auch für die Feinde der Demokratie, ist so.“ Nach einem Wahlsieg will ihn die AfD abschaffen. In Schleusingen filmt die ZDF-Kamera ein Transparent: „Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt.“
„Wen soll man noch wählen?“
„Wir wissen, was war“, sagt eine Rentnerin aus Schleusingen, „wir haben Hitlers Zeiten miterlebt.“ Sie mag Björn Höcke nicht. Neben ihr steht der Enkel. Er versichert, dass er am 1. September AfD wählen wird: „Soll ich die Linken wählen? Wen soll man denn noch wählen?“
Um eine Antwort bemüht sich in der Thüringer Kleinstadt ein „Bündnis für Demokratie“. Dieser Zusammenschluss von der CDU bis zur Linken versucht, Alternativen zur angeblichen Alternative für Deutschland aufzuzeigen. Was sagt die Präsidentin des Thüringer Landtags, Birgit Pommer (Linke)? „Wenn es uns nicht gelingt, den Menschen deutlich zu machen, dass Demokratie nicht einfach etwas Geborenes ist und nichts Selbstverständliches – dann könnten wir schwierigen Zeiten entgegengehen.“
„Wollen wir, dass Hetze unser Miteinander bestimmt?“
Corinna Wartenberg ist Geschäftsführerin des Thüringer Traditionsunternehmens Viba. Es stellt den Thüringer Nougat-Klassiker her: „Meistens braun“, wie der Werbespruch sagt, „aber wir sind keine Faschisten.“ Zu dem Unternehmen, das Menschen aus 14 Nationen beschäftigt, aber stolz ist, dass die meisten „Ossis“ sind, kommt der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Draußen formiert sich der Protest. „Die Schärfe der Reaktion ging uns nahe“, sagt die Geschäftsführerin und stellt die Frage: „Wollen wir, dass Spaltung und Hetze unser Miteinander bestimmt?“
Damit ist auch der Kern der Frage für Thüringen und die anderen 15 Bundesländer gestellt: Wie viel Toleranz muss, kann, darf sein in der demokratischen Auseinandersetzung?
Der Thüringer Verfassungsschutzchef zieht eine klare Grenze – und durch die passt kein Björn Höcke: „Das ist jemand, der es verstanden hat, die Demokratie zu benutzen. Er hat bewiesen, dass er nicht nur seine legitimen demokratischen Rechte in Anspruch nimmt, sondern dass am Ende seine Szenarios das Ende der Demokratie steht.“
Und so stellt sich am Ende die Grundsatzfrage: Hat Deutschland nicht nur Außengrenzen, die besser gesichert werden sollten – haben wir auch Grenzen im Innern, die dringend geschützt werden müssen?