Was darf Verdachtsberichterstattung? Wenn man der Chefredaktion der „Süddeutschen Zeitung“ glauben darf: alles. Das heißt auch die Beschuldigung von Politikern ohne wirklichen Beweis.
Ein Informant, pensionierter Gymnasiallehrer an einer bayerischen Schule, meldet sich bei einer der führenden Zeitungen des Landes. Er habe etwas, was die Redaktion interessieren könnte und geeignet sei, den Ruf eines prominenten Politikers zu zerstören. Das „Etwas“ ist ein Flugblatt mit Sätzen, wie man sie von einem Amtsträger der Bundesrepublik noch nicht gelesen hat.
Das Blatt trägt keine Unterschrift, aber der Lehrer ist sicher, wer der Urheber ist: der Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident des Freistaates Bayern. Niemand anders käme infrage. Das könne er bezeugen, allerdings nur anonym. Der Lehrer will keine Schwierigkeiten bekommen.
Es ist eine Geschichte, wie sie jede Redaktion erträumt. Einen ihr missliebigen Minister, der mit seiner Partei in den Umfragen steigt, einer Untat überführen, und das sechs Wochen vor der Landtagswahl. Es gibt nur ein kleines Problem: Die Autorenschaft lässt sich nicht beweisen, auch nicht nach einer Recherche, zu der ein halbes Dutzend Reporter ausschwärmt.
Die Flugblatt-Affäre ist der größtmögliche Unfall für ein Presseorgan
Die Zeitung wird später schreiben, sie habe mehrere Zeugen gefunden, die ihre Darstellung bestätigt hätten, aber wer das ist, kann sie nicht sagen. Tatsächlich ist das Blatt über die Angaben des Gymnasiallehrers bei der Recherche nicht wirklich hinausgekommen. Alles, was die Redaktion weiß, beruht im Wesentlichen auf seinen Angaben. In der Zeitung wird diskutiert, wie man verfahren soll. Einigen erfahrenen Redakteuren ist unwohl. Was, wenn sich die Angaben des Informanten als unzutreffend erweisen?
Die Chefredaktion entscheidet dennoch, die Geschichte groß zu bringen, auf der Titelseite, mit einem Foto des Beschuldigten. Es liest sich so, als ob die Schuld feststehen würde. Wir wissen, wie die Sache weitergegangen ist. Hubert Aiwanger hat dementiert, er hatte auch gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ ausführlich dementiert, jedenfalls ausführlicher, als es dann Eingang in den Text fand. Dann outet sich der Bruder als Urheber der Schmierschrift. Es ist der größtmögliche Unfall für ein Presseorgan: Man bezichtigt einen Politiker einer Tat, die man dort zu Recht als „ungeheuerlich“ bezeichnet – und steht dann blank da, als der einen anderen als Täter benennt.
Ich habe am Montag mit Spannung die „Süddeutsche Zeitung“ aufgeschlagen. Ich hatte eine Erklärung der Chefredaktion erwartet. Das letzte Mal, dass eine Redaktion so daneben lag, war, als die „Bild“ dem damaligen Umweltminister Jürgen Trittin anhand eines Fotos aus Studentenzeiten einen Bolzenschneider in der Hand andichtete. Der Fehler führte beinah zur Entlassung des frisch installierten Chefredakteurs Kai Diekmann und einer sofortigen Entschuldigung.
Nur Selbstlob bei der „SZ“: Sogar die „Bild“ zeigte sich schon reumütiger
Bei der „SZ“ hingegen: Selbstlob. Die Frage, wer das Pamphlet geschrieben hat, schrumpfte am Montag zu „einer Sache“, einem Detail am Rande. „Im Kern“ habe man recht behalten, Aiwanger habe schließlich eingeräumt, dass in seinem Schulranzen mindestens ein Exemplar des Flugblatts gefunden worden sei.
Am Dienstag dann die vollständige Selbstexkulpation der Chefredaktion: Auf die Urheberschaft komme es gar nicht mehr an. Der Rest sei schrecklich genug, um die sofortige Entlassung des Ministers erforderlich zu machen. „Auf die Urheberschaft kommt es nicht mehr an“: Auch so kann man den Journalismus in Deutschland zu Grabe tragen.
Man veröffentlicht den denkbar schlimmsten Vorwurf, den man einem Politiker machen kann. Als sich die entscheidende Anschuldigung als falsch beziehungsweise nicht beweisbar herausstellt, sagt man einfach: Aber alles andere stimmte ja. Wie soll man das nennen? „Kampagnenjournalismus“ ist als Wort zu schwach. Kampagnen gibt es im Journalismus viele, aber Kampagne bedeutet nicht, dass man mit unbewiesenen Vorwürfen um sich schmeißen darf.
Wie soll man diesen Journalismus gegen Aiwanger eigentlich nennen?
Auch „Verdächtigungsjournalismus“ trifft es nicht hinreichend. Vielleicht sollte man von „SZ-Journalismus“ sprechen. Wenn später an Journalistenschulen vom Fall Aiwanger die Rede ist, böte sich diese Formulierung für ein neues Verständnis von Pressefreiheit an.
Es hätte andere Möglichkeiten gegeben. Man hätte berichten können, was für und gegen den Vorsitzenden der Freien Wähler in Bayern spricht. Verdachtsberichterstattung nennt sich dieses Genre. Jemandem wird zur Last gelegt, sich falsch oder möglicherweise sogar kriminell verhalten zu haben. Vieles deutet darauf hin, dass die Vorwürfe stimmen, aber der letzte Beweis lässt sich nicht erbringen. Also setzt man den Leser über den Stand der Recherche in Kenntnis, auch über Zweifel und Einwände.
Aber das war der „SZ“ zu klein. Sie wollte den bayerischen Wirtschaftsminister unbedingt erledigen. Deshalb wählte man für die Veröffentlichung einen Text, in dem zunächst seine Auftritte im Wahlkampf beschrieben wurden. Jeder Satz, den Hubert Aiwanger gesagt hat oder künftig sagen wird, soll ab jetzt vor dem Hintergrund des Flugblatts gelesen werden. Das war die Intention, deshalb war die Behauptung der Urheberschaft so wichtig.
Auch ich halte Aiwangers Agieren für ungeschickt – doch er ist nicht in Bringschuld
Finde ich Hubert Aiwangers Erklärungen ungenügend? Ja, das finde ich. Ich halte sein Agieren für konfus und widersprüchlich. Kann man die Geschichte mit dem Bruder als Autor bezweifeln? Das kann man. Aber es ist nicht die Aufgabe des Beschuldigten, zu beweisen, dass die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen unzutreffend sind. Es ist die Aufgabe des Beschuldigers, zu belegen, dass das, was er behauptet, stimmt.
Einige tun jetzt so, als sei es im Grunde egal, wer die infamen Zeilen in die Schreibmaschine hackte, der ältere oder der jüngere Bruder. Eine Personalunion der Schuld. Wir sollten uns gut überlegen, ob wir dieser Argumentation folgen wollen. Wer von der konkreten Tatzuschreibung abweicht, gerät in Teufels Küche.
Man kann in den USA besichtigen, wohin es führt, wenn sich Redaktionen zum Teil des politischen Kampfes machen. Dann endet man in den Schützengräben von Sendern wie „Fox News“ und „MSNBC“, wo alles nur noch danach bewertet wird, ob es der Agenda nützt oder schadet. Den eigenen Leuten lässt man jede Verfehlung durchgehen, dem Feind hingegen darf man getrost alles an Missetaten unterstellen.
Die „Süddeutsche“ war nicht die einzige Redaktion, die im Besitz des Flugblatts war, das sollte nicht unerwähnt bleiben. Dem „Spiegel“ lag ebenfalls eine Kopie vor. Zufällig kenne ich den Redakteur, der dort mit der Recherche betraut war. Ohne zu indiskret zu sein, kann ich sagen, dass man ihm nicht aufs Pferd helfen muss, wenn es gegen rechts geht. Aber in diesem Fall riet er nach eingehender Prüfung von einer Veröffentlichung ab. Die Vorwürfe erfüllten nicht die Mindeststandards für eine Verdachtsberichterstattung, lautete sein Urteil.
Was man bei der „SZ“ ernst nimmt und beim „Spiegel“ nicht
Es spricht für die Chefredaktion des „Spiegel“, dem Urteil ihres Redakteurs vertraut zu haben. Ich kenne das Jagdfieber, das Redaktionen erfassen kann, zumal wenn man fürchten muss, von der Konkurrenz abgehängt zu werden. Hier einen kühlen Kopf zu bewahren, ist eine Eigenschaft, die einen Chefredakteur auszeichnet – und die den des „Spiegel“ von dem der „Süddeutschen“ unterscheidet.
Ich habe vor vielen Jahren als Berufseinsteiger ein längeres Praktikum bei der „Abendzeitung“ in München absolviert. Wie die Umstände es wollten, lagen die Redaktionsräume der „SZ“ gleich nebenan in der Sendlinger Straße. Das war, bevor irgendwelche grauen Männer in Stuttgart den Umzug an den Stadtrand befahlen. Natürlich schaute man von der „Abendzeitung“ mit Ehrfurcht auf die Kollegen bei dem großen Blatt.
Zu den Sätzen, die ich während meines Praktikums lernte, gehörte die spöttische Weisheit des Boulevardgewerbes: „Es muss so gewesen sein. Es wird so gewesen sein. Es ist so gewesen.“ Das Tragische bei der „Süddeutschen“ ist, dass sie diesen Satz ernst nimmt, ohne das zugeben zu können.