Gabor Steingart

Wenn in Osteuropa die Kanonenkugeln donnern, klingelt in Amerika die Kasse

31.01.2023
Lesedauer: 5 Minuten
Die USA spielen Big Tech gegen Europa. Bildquelle: Media Pioneer

Der SPD-Politiker Egon Bahr sagte einst: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie, sondern um die Interessen von Staaten.“ Wie sieht der Ukraine-Krieg mit dieser Brille betrachtet aus?

Der Sozialdemokrat Egon Bahr leitete in seiner Blütezeit den Planungsstab im Auswärtigen Amt von Willy Brandt. Er gehörte zur seltenen Spezies der Realpolitiker. 

Die Mechanik der Macht faszinierte ihn, den Rest hielt er für politischen Zuckerguss. Der Begriff einer „werteorientierten Außenpolitik“ wäre ihm nicht über die Lippen gekommen.

Unvergessen, wie er eine Schulklasse mit klaren Worten in sein Politikverständnis einführte: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Europäische Daten werden ohne Rücksicht auf Verluste abgesaugt

Wenn wir mit dem Röntgenblick des Egon Bahr unsere heutigen außenpolitischen Beziehungen durchleuchten, müsste insbesondere das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika einer Neubewertung unterzogen werden. 

Ein europäisches Eigeninteresse würde sichtbar, das im Kontrast zu den gefühlvollen Treueschwüren der transatlantischen Community steht:

1. Die USA spielen bei Big Tech gegen Europa. Ohne Rücksicht auf Verluste werden die Daten europäischer Internetnutzer von Google, Facebook und Co. abgesaugt und einer kommerziellen Nutzung zugeführt. 

Die Gewinne fallen in den USA an, sodass auch der hiesige Fiskus nicht wirklich profitiert. Die Marktkapitalisierung der Internet-Giganten erzählt die Geschichte eines amerikanischen Hightech-Tech-Monopols.

2. Der Inflation Reduction Act hat mit der Inflationsbekämpfung wenig zu tun. IRA ist der Tarnname für das größte industrielle Abwerbeangebot, das je eine Nation einem anderen Wirtschaftsraum unterbreitet hat. 

Mit Anreizprämien in der Größenordnung von 370 Milliarden US-Dollar, das entspricht dem dreifachen Jahresgewinn aller DAX 40 Unternehmen, sollen europäische Industrie-Unternehmen der energieintensiven Sorte zur Produktionsverlagerung in die USA verführt werden. RWE und Siemens sind dem Charme der hohen Subventionen bereits erlegen.

Putin zahlt mit Menschenleben, Biden mit Geld

3. Ein zu Wasser, in der Luft und zu Land geführter Krieg gegen Putin liegt im amerikanischen, aber nicht im europäischen Interesse. Für die Amerikaner ist der militärische Schlagabtausch in der Ukraine eine gute Gelegenheit, dem russischen Autokraten einen Stoß zu verpassen. 

Joe Biden sagte vor dem Warschauer Stadtschloss einen Monat nach Kriegsbeginn, es gehe um eine „große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird.“

Der Mann hat leicht reden: Die Auseinandersetzung mit Putin, rund 5000 Seemeilen vom eigenen Territorium entfernt und ohne Einsatz eines einzigen US-Soldaten am Boden, ist für die Amerikaner ein Best-Case-Szenario. 

Putin zahlt mit Menschenleben, Biden mit Geld. Putin verliert mit einem Federstrich seine komplette europäische Kundschaft, die nun ihr Öl und Gas bei Uncle Sam einkauft.

Die bisherige ökonomische Kriegsbilanz lässt sich aus Sicht der Amerikaner wie folgt zusammenfassen: Wenn in Osteuropa die Kanonenkugeln donnern, klingelt in Amerika die Kasse. Sie klingelt sogar zweimal: Einmal bei der Rüstungsindustrie und anschließend bei den Energiekonzernen.

Die Reputation der Amerikaner ist beschädigt

4. Ein Wirtschaftskrieg gegen China – Stichwort Decoupling – nutzt den Amerikanern und schadet den Europäern. Der Grund: Amerika besitzt den – gemessen in Dollar – weltgrößten Binnenmarkt und hat seine Rolle als größter Exporteur der Welt vor Jahrzehnten bereits verloren. 

Deutschland und China hingegen sind in diese Rolle hineingewachsen, was die amerikanische Wirtschaft nicht ruiniert, aber schmerzt.

Durch ein Decoupling würden die europäisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen entwertet. Klaus von Dohnanyi schrieb dazu in seinem Buch „Nationale Interessen“ in Bezug auf die amerikanische Chinapolitik: „Die Verschleierung ihrer Machtinteressen mit humanitären Argumenten hat für die USA Tradition und darf uns nicht täuschen.“

5. Die Reputation der Amerikaner ist in weiten Teilen der Welt schwer beschädigt. Ihr Alliierter und Freund zu sein ist – anders als direkt nach dem Zeiten Weltkrieg – keineswegs mehr der Passierschein für eine honorige Reputation und gute Geschäfte.

Der vom CIA durchgeführte Umsturz im Iran, als man eine demokratisch gewählte Regierung zugunsten des Schah von Persien eliminierte, endete 26 Jahre später mit dem Sieg der Ayatollahs. 

Der Vietnamkrieg, der Einmarsch im Irak und auch die 20 Jahre währende Besetzung Afghanistans haben der Begeisterung für den Westen geschadet.

Unter Hochspannung stehende Welt könnte Mittler gebrauchen

Mit vorgehaltener Maschinenpistole lässt sich nicht glaubhaft für Rechtsstaatlichkeit, Frauengleichberechtigung und Meinungsfreiheit werben. Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra schrieb gestern bei Bloomberg:

„Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Menschen und Regierungen des globalen Südens, die am meisten unter den wirtschaftlichen Folgen des Krieges leiden, sich entschieden gegen Putin wenden, oder dass die Mehrheit der Weltbevölkerung Russlands Angriff auf die Ukraine als qualitativ anders als die US-Invasion im Irak ansieht. In Indien, das angeblich mit dem Westen verbündet ist, gaben in einer kürzlich durchgeführten Umfrage mehr Befragte der NATO oder den USA die Schuld am Krieg in der Ukraine als Russland.“

Fazit: Diese unter Hochspannung stehende Welt könnte einen Mittler zwischen den Welten gut gebrauchen – einen Mittler, keinen Traumtänzer. Europa, wenn er sich nicht als Derivat der US-Interessen definiert, hätte der Welt einiges zu bieten. 

Oder wie Klaus von Dohnanyi schreibt: „Brüssel geht oft zu leichtfertig mit Europa um.“ Diese lakonische Bemerkung hätte einem wie Egon Bahr gut gefallen.

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