Aufarbeitung

RKI-Files und die Arroganz der Macht: Wie sich Verantwortliche herausreden

16.08.2024
Lesedauer: 10 Minuten
Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit. / dpa

Spahn erzählt Quatsch im Bierzelt, Lauterbach warnt vor Verschwörern, Drosten hält Deutsche für ungebildet. Das ist keine Aufarbeitung, das ist ein Desaster. Ein Kommentar.

Er sagt es nicht einmal, sondern gleich zweimal im Interview mit der NZZ, in dem er für sein neues Buch wirbt und sich selbst als Kronzeugen für die Aufarbeitung vorschlägt. Charité-Virologe Christian Drosten, „Gesicht der Wissenschaft“ über weite Teile der Pandemie hierzulande, erklärt der Tageszeitung mit Sitz in Zürich auf die Nachfrage, warum Schweden teils besser durch die Pandemie gekommen sei als Deutschland: Das liege unter anderem an der besseren Bildung der Schweden.

Und damit keine Zweifel aufkommen, denn Drosten nennt noch weitere Gründe, u.a. die dortige „Neigung, staatlichen Empfehlungen zu folgen“, bessere Wirtschaft, kleinere Fläche und einen besseren Zusammenhalt bei den Schweden, betont er noch an dritter Stelle in dem Interview vergangene Woche: Er habe zu Beginn der Pandemie gedacht, auch die Deutschen würden sich so verhalten – Experten informieren die Menschen, sie verstehen es und verhalten sich vernünftig. Aber, so Drosten: „Ich war naiv.“ Er lebe wohl in einer Blase. „Tatsächlich habe ich im persönlichen Umkreis wenig mit Menschen zu tun, die grundsätzlich an der Wissenschaft zweifeln.“

Warum gibt es keine Aufarbeitung?

Und das ist leider das große Problem. Sie leben alle in einer Blase. Ob Drosten, Spahn oder Lauterbach: Konfrontiert mit den RKI-Protokollen und den damit verbundenen Aufarbeitungswünschen aus der Bevölkerung, versagen sie.

Denn es geht ja hier mitnichten darum, dass die „einfachen Menschen“ schlicht nicht verstehen würden, was die große Politik oder die hehre Wissenschaft damals Feines für die Menschheit ausbaldowert hätten. Es geht genau andersrum darum, dass jene Herren nicht anerkennen wollen, dass große Teile der Bevölkerung nicht ansatzweise so minderbemittelt sind, wie sie sich das anscheinend vorstellen.

Jens Spahn etwa als Wahlkampfhelfer für die CDU im Bierzelt am Dienstag in Brandenburg: Die Welt berichtet aus Spremberg, wo es neben anderen Themen um die Corona-Aufarbeitung ging, offenbar vor allem weil Pandemie-Kritiker am Ort waren. Befragt nach den RKI-Protokollen, sagt der ehemalige Gesundheitsminister, er „verstehe das ganze Theater nicht“.

Am Rande der Veranstaltung, so filmt es jemand, der das Video später auf X stellt, sagt Spahn den Gästen hinter dem Zaun auf die Frage nach den RKI-Files, dass „alles, was darin steht, schon seit drei bis vier Jahren bekannt ist; das ist nichts Neues“.

Alles schon bekannt? Ja, aber es wurde diffamiert!

Aber genau darum geht es ja: Natürlich waren viele der wissenschaftlichen und medizinischen und grundrechtlichen Fragen, zu Impfungen, zu Masken, zu Schulschließungen, zu Lockdowns schon während der Pandemie im Gespräch. Aber eben nicht in der breiten medialen Öffentlichkeit, nicht im offenen politischen Diskurs.

Stattdessen wurde eine ganze Reihe von Fragen und Themen, die das Robert-Koch-Institut während der Pandemie zur Diskussion stellte, wie die RKI-Files nun zeigen, teils über Jahre hinweg von Politikern, Wissenschaftlern und Ärzten sowie einem großen Teil der Medien entweder verschwiegen oder dermaßen als Absurdität gekennzeichnet, dass ein Sprechen oder Schreiben darüber bei manchen zu Entlassungen führte, bei anderen dazu, dass sie sich nie wieder zu diesen Themen äußern wollten, dass sie als „Nazis“ gekennzeichnet wurden, als Verschwörungstheoretiker, und nicht zu vergessen: Einige wurden bei Demos dafür von der Polizei verprügelt.

Dass also jene, die schon genauso früh wie Jens Spahn von diesen Widersprüchen wussten, die das RKI in den Protokollen klar benennt, nun ziemlich sauer sind, das liegt auf der Hand. Doch er stellt sich in Brandenburg an einen Zaun und grinst: Das ist doch nichts Neues? Wie abgehoben kann man sein?

Jens Spahn, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, während der Veranstaltung in Brandenburg. Foto: Frank Hammerschmidt/dpa

Schließlich waren es er selbst und nicht zuletzt sein Nachfolger Karl Lauterbach (SPD), die sich damals nicht nur dagegen verwahrt haben, dass andere Stimmen gehört wurden, schlimmer noch: Sie haben die Stimmen in der eigenen Behörde gehört, aber sie haben sie überstimmt, um nicht zu sagen: mundtot gemacht. Die politische Einflussnahme beider Gesundheitsminister auf das RKI ist in den Protokollen unübersehbar. Sie wird an vielen Stellen vom RKI dort selbst moniert.

Die Berliner Zeitung hat das Bundesgesundheitsministerium am Montag angefragt, was es zum Vorwurf der politischen Einflussnahme auf das RKI zu sagen hat. Lauterbachs Sprecher, der zuvor schon Spahns Sprecher war, lieferte daraufhin denselben Textbaustein, der schon vergangene Woche kolportiert wurde. Der hat nur leider wenig mit den konkreten Vorwürfen oder der Fragestellung zu tun. Der Minister lenkt mal wieder ab, wie schon so oft in der Vergangenheit.

Nachgehakt beim BMG, kommt dazu auch nichts Weiteres. Stattdessen hat Karl Lauterbach in der Berliner Morgenpost zu Mittwoch ein Interview gegeben, in dem er die aus seiner Sicht drei größten Fehler der Pandemie benennt: „Wir haben die Kinder nicht ausreichend vor den Folgen von Schulschließungen und Lockdowns geschützt. Zum zweiten haben wir als Regierung nicht optimal mit der Bevölkerung kommuniziert. Und drittens war die Art, wie Wissenschaft und Politik zusammenarbeiten, zu Beginn oft undurchsichtig.“

Das sind wieder Textbausteine, die wenig mit den tatsächlichen Problemen in der Pandemie zu tun haben. Befragt nach einer Aufarbeitung zu kriminellen Maskendeals, umstrittenen Schulschließungen oder intransparenten Entscheidungen, antwortet er, eine parlamentarische Aufarbeitung sei nötig, nicht aber ein „politisches Tribunal“. Und: „Für den Wahlkampf von Verschwörungstheoretikern eignet sie sich nicht.“

Wer verbreitet hier Verschwörungstheorien?

Das ist er schon wieder, der beliebte Vorwurf der Verschwörungstheorie, ein Totschlagargument. Im selben Interview warnt er die Interviewer davor, „mit Verschwörungstheorien die Vergangenheit zu verzerren“, als sie ihn fragen, warum er die im Februar 2022 vom RKI gewünschte Herabsetzung des Risikos verhindert habe. Und inwiefern das damit zu tun hatte, dass er im April 2022 eine allgemeine Impfpflicht durch den Bundestag bringen wollte. Bundestags-Vize Wolfgang Kubicki (FDP) hatte diesen Vorwurf zuletzt nach der Lektüre der RKI-Files öffentlich gemacht und Lauterbach zum Rücktritt aufgefordert.

Lauterbach aber begegnet auch hier wieder – ziemlich unsouverän – dem völlig nachvollziehbaren Vorwurf mit dem Gegenvorwurf der Verschwörungstheorie. Zu Kubicki selbst wolle er sich nicht äußern. Zum Frühjahr 2022 hat er zu entgegnen, dass damals „teilweise noch Hunderte Menschen pro Tag an Corona gestorben sind. In einer solchen Lage kann man nicht das Risiko herabstufen. Die Einstufung basiert im Übrigen immer auf den vorhandenen Daten und den Einschätzungen der Experten des RKI und des Gesundheitsministeriums. Dann wird eine gemeinsame Entscheidung getroffen.“

Dem widersprechen nicht nur die RKI-Files, deren Echtheit in dieser Woche übrigens das RKI selbst bestätigt hat, sondern auch etwa die findige Userin „Stefanie“ auf X: Lauterbach rede sich in diesem Interview um Kopf und Kragen, denn seine Aussagen widersprächen dem damaligen Wochenbericht des RKI, in dem es heiße, dass seit Januar 2022 (Omikron-Variante) erstmals keine erhöhte Krankheitslast durch Atemwegsinfektionen im stationären Bereich zu verzeichnen gewesen seien. Zitat: „Dagegen hatten die vorherigen Wellen jeweils zu einer deutlichen Erhöhung der Fallzahlen im stationären Bereich geführt, trotz der strikten Maßnahmen gegen Covid-19.“

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wo auch immer Spahn oder Lauterbach als während der Pandemie verantwortliche Gesundheitsminister festgenagelt werden auf konkrete und teils gefährliche Widersprüche, winden sich sie raus wie die Aale. Dabei wäre es so einfach, das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen. Viele Menschen sehnen sich danach, wie man an denjenigen sieht, die mit der Aufarbeitung lieber nichts zu tun haben wollen, selbst wenn sie etwa Verwandte haben, die an schwersten Impfnebenwirkungen leiden.

Viele möchten einfach wieder in der Normalität ankommen. Sie möchten Vertrauen in die Demokratie und die Institutionen haben, weil das Leben in der BRD ansonsten ungleich schwieriger wird, ein solcher Vertrauensverlust an ihrem kompletten Weltbild zerrte.

Das Erste, was die Politik dafür tun müsste, dass ein großer Teil der Bürger in diesem Land wieder an eine Politik glauben könnte, die für die Bürger da ist, wäre, sich zu entschuldigen. Glaubhaft zu versichern, dass man mit dem Wissen von heute – und nicht dem von damals – einen Rückblick auf die Pandemie wagt, der die Verdienste von Kritikern anerkennt, sie wo nötig resozialisiert und vor allem den neuen Erkenntnissen auch den Raum bietet, der dringend vonnöten wäre.

Es gibt schwerst Impfgeschädigte? Schlimm genug, aber wie viele sind es genau, wie kann man ihnen nun mit Forschung und der Bereitstellung von Medizinern sowie konkreten Angeboten zum Überleben durch den Bürokratie-Dschungel helfen, anstatt sie unter Benennung eines diffusen Syndroms (Post-Vac) in die Hölle der von Krankenkassen nicht unterstützten und von Versorgungsämtern leicht abzulehnenden, weil nicht anerkannten Krankheiten zu entlassen?

Lauterbach hat schon wieder Impfstoff bestellt

Lauterbach hat gerade erst verkündet, schon wieder 15 Millionen Dosen Impfstoffe gegen Corona bestellt zu haben. Er empfiehlt abermals die Auffrischungsimpfung allen Alten und Risikopatienten. Das geht so nicht.

Zwar macht er immerhin die Einschränkung, wer in diesem Jahr schon Corona hatte, müsse sich nicht impfen lassen. Doch weiterhin ganzen Bevölkerungsgruppen ohne Eingehen auf individuelle Unverträglichkeiten weiterhin millionenfach einen Impfstoff zu empfehlen, der bei – leider ungezählten – Menschen zu teils schwersten Nebenwirkungen geführt hat, ist einfach unseriös. Mindestens das sollte doch die Pandemie gelehrt haben. Und vieles weitere mehr.

Wir werden um einen Untersuchungsausschuss deshalb nicht umhin kommen. Dass Lauterbach weiter am Ruder ist, erscheint nach diesen neuen Äußerungen bizarr. Spahn scheint genauso wenig seine Lehren gezogen zu haben. Und Drosten sollte – entgegen seiner eigenen Empfehlung – bei der nächsten Pandemie nicht mehr derjenige sein, an deren Lippen fast ein ganzes Volk hängt.

Glaubt man der WHO, stehen die nächsten Pandemien ja schon wieder vor der Tür.

In der FAZ hat die Professorin für Strafrecht an der Uni Köln, Frauke Rostalski, am Mittwoch unter der Überschrift „Wir leben in den Gräben der Pandemie“ eine bemerkenswerte Abhandlung zu den RKI-Files geschrieben. Für sie sind die Protokolle vor allem aus juristischer Perspektive problematisch. „Denn sie offenbaren, dass empirische Erkenntnisse, die für die rechtliche Bewertung von Maßnahmen bedeutsam waren, öffentlich nicht beziehungsweise abweichend kommuniziert wurden“, so Rostalski. „Auf dieser Basis wurden vonseiten der Politik teils erhebliche Freiheitseingriffe gegenüber den Bürgern gerechtfertigt, ihre empirische Grundlage als ‚State of the Art‘ der aktuellen naturwissenschaftlichen Forschung präsentiert.“

Zu lange Schulschließungen, zu lange Lockdowns, das peinliche Gerede von der „Pandemie der Ungeimpften“ – die Juristin entlarvt hier einen weiteren Kunstgriff derjenigen, die eine Aufarbeitung verhindern wollen: „Na­tür­lich geschieht es häufiger, dass wir später klüger sind – und dann zugestehen müssen, dass wir unsere Entscheidungen anders getroffen hätten, wenn wir es besser gewusst hätten. Aber solch ein Fall liegt hier gerade nicht vor“, entlarvt sie eine der beliebtesten Ausreden gegen die Aufarbeitung als Vorwand. „Problematisch an den RKI-Protokollen ist nämlich, dass wir schon damals anderes hätten wissen können, wenn die betreffenden Wissenschaftler und die Politik die Bürger entsprechend informiert hätten. Dann wären, wie die Beispiele zeigen, möglicherweise andere rechtliche Entscheidungen getroffen, wäre Freiheit anders verteilt worden.“

Rostalski ist übrigens Mitglied des Deutschen Ethikrats. Womöglich sollten in zukünftigen Gremien eher solche Leute sitzen als solche wie Alena Buyx, die schon während der vergangenen Pandemie wenig Substanzielles beizutragen hatte. Und womöglich sollten darüber auch nicht mehr Leute wie Lauterbach und Spahn zu entscheiden haben. Sie hatten ihre Chance. Sie haben sie leider nicht ausreichend genutzt.

Denn was man ihnen in der Tat zugutehalten kann, dass sie nämlich beide das Land durch die Corona-Pandemie geleitet haben, ohne NOCH größere Schäden zu verursachen – genau das machen sie gerade kaputt, indem sie eine ordentliche Aufarbeitung konterkarieren und erneut ins Land der Verschwörungen verweisen. Das macht ihre Glaubwürdigkeit zunichte.

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