Europa sollte sich nicht zu früh über einen möglichen Sieg von Kamala Harris freuen. Das transatlantische Verhältnis wird sich nicht wie bisher fortsetzen. Die Realpolitik zeigt, dass Europa in vier entscheidenden Bereichen eigenständiger handeln muss.
Die bundesdeutsche Öffentlichkeit diskutiert mit Hingabe die falsche Frage: Trump oder Harris? Republikaner oder Demokrat? Wer führt künftig Amerika?
Die Leidenschaft der Debatte steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer realpolitischen Relevanz. Denn die Hoffnung hinter der Leidenschaft, mit Harris werde die transatlantische Beziehung in alter Tradition fortgesetzt, ist durch Fakten nicht gedeckt. Die Financial Times warnt die Europäer davor, den Sieg Trumps mit Angst und Unsicherheit zu erwarten und den von Harris mit nostalgischer Verklärung und Selbstzufriedenheit zu ersehnen: „Europa wäre unklug, sich zu früh zu freuen.“
Denn auf vier entscheidenden Feldern der europäischen Politik ist die Vergangenheit vergangen – auch mit Harris.
# 1 Europäische Sicherheit
Amerika wird die europäische Sicherheit perspektivisch nicht weiter garantieren. Auch wenn unter einer Kamala Harris-Administration kein Abschied der USA von der Nato gefürchtet werden muss, ist Europa gefordert, einen deutlich höheren Eigenbeitrag zu leisten. Sie will Europa zwar weiter beschützen – aber eben auf europäische Rechnung.
Bei der Münchener Sicherheitskonferenz Anfang des Jahres sandte Kamala Harris eine beruhigende Botschaft:
„Die Nato ist von zentraler Bedeutung für die globale Sicherheit. Für Präsident Biden und mich bleibt unser Engagement für die Nato heilig und eisern.“
Aber, fügte sie listig hinzu:
„Unser Ansatz basiert nicht auf den Tugenden der Nächstenliebe. Wir verfolgen unseren Ansatz, weil er in unserem strategischen Interesse liegt.“
Die Schlussfolgerung in Europa muss sein, sich an die Nato-Vereinbarung der Verteidigungsausgaben zu halten. 2024 haben immerhin 23 der 32 Nato-Verbündeten – darunter die USA – das Zwei-Prozent-Ziel erreicht. 2021 waren es ohne die USA nur fünf Länder.
Was bleibt? Der Anteil der USA an den gesamten Verteidigungsausgaben der Nato beträgt heute mit 968 Milliarden Dollar rund 66 Prozent. Die europäische Abhängigkeit ist für Amerika zu teuer und für Europa gefährlich – unabhängig davon, wer die Wahl gewinnt.
# 2 Die America-First-Economy
Die USA haben den Freihandel, wie wir ihn bisher kannten, beendet. Das Land sieht sich – unabhängig davon, wer im Weißen Haus am Schreibtisch sitzt – in der System-Rivalität mit China. „America first“ beschreibt heute den Grundkonsens aller Politiker in den USA:
Bereits die Trump-Administration der Jahre 2017 bis 2021 verhängte hohe Zölle auf ausländische Produkte. Joe Biden legte mit seiner 100-prozentigen Grenzsteuer für Elektroautos aus China nach. Die Priorität eines jeden US-Präsidenten gilt nicht der deutschen Exportbilanz, sondern dem amerikanischen Arbeiter.
Die Biden-Regierung will chinesische Produkte verteuern oder den Zutritt zum US-Markt hindern. Der Inflation Reduction Act dient keineswegs, wie der Name suggeriert, der Inflationsbekämpfung, sondern der Auslobung gigantischer Anlockprämien für ausländische Firmen.
Mit Erfolg: Die Zuflüsse von Direktinvestitionen aus Deutschland in die USA sind zwischen 2021 und 2023 um fast 20 Prozent auf 473 Milliarden US-Dollar gestiegen. Insgesamt enthält das Biden-Programm rund 740 Milliarden Dollar, die als Lockstoff für Ausländer eingesetzt werden können.
Harris = Biden: „Eine Präsidentschaft von Harris würde Bidens Handelspolitik fortsetzen und darauf aufbauen“, sagt Todd Tucker, der Direktor von Roosevelt Forward, einer den Demokraten nahestehenden Forschungsorganisation. Die Deutschen werden – auch das ist neu – in der Wirtschaftspolitik ihre Interessen künftig eigenständig vertreten müssen. Das Kind hat seinen Vormund verloren.
# 3 Klimaschutz an zweiter Stelle
Kamala Harris ist kein zweiter Al Gore. Auch haben sie und die Demokraten insgesamt ihre Position zur Exploration von Schiefergas und Öl verändert. Das Ziel beider großer Parteien lautet in einem Wort: Energieunabhängigkeit.
Der von den Republikanern erfundene Spruch „Drill, baby, drill!“ gilt heute auch für Kamala Harris. 2019 hatte sie noch gefordert, die Gewinnung von Schiefergas mittels Fracking zu verbieten:
„Es steht außer Frage, dass ich für ein Verbot von Fracking bin.“
Heute will sie davon nichts wissen. Als Trump sie aufgrund der alten Position angriff, meldete das Team Harris umgehend:
„Trumps falsche Behauptungen über Fracking-Verbote sind ein offensichtlicher Versuch, von seinen eigenen Plänen zur Bereicherung von Öl- und Gasmanagern auf Kosten der Mittelschicht abzulenken.“
Das bedeutet für Deutschland: Die USA werden weiter fossile Energie fördern und auf dem Weltmarkt verkaufen – gern auch nach Deutschland. Die deutsche Klimapolitik findet in den USA keine Nachahmer.
# 4 Big Tech über alles
Europa ist nicht groß in KI, aber groß in der KI-Regulierung. Der AI Act wurde über die Bühne gebracht, bevor Europa auch nur ansatzweise in der US-Liga mitspielen kann.
Die USA – unabhängig von der Frage Trump oder Harris – setzen auf die Vormachtstellung ihrer Digitalkonzerne und die Deklassierung Europas. Beide Kandidaten werden ihre Tech-Giganten nicht einschränken, sondern weiter unterstützen. Ihr Zauberwort heißt Deregulierung.
Bidens Administration hat dieses Ziel in eine Verordnung gegossen, die sicherstellen soll, „dass Amerika bei der Nutzung der Möglichkeiten und der Bewältigung der Risiken der Künstlichen Intelligenz (KI) eine Vorreiterrolle übernimmt.“ So sehen es auch Trump und Harris.
Und: Harris wie Trump halten enge Verbindungen zu Tech-CEOs. In ihrer Kampagne für die Generalstaatsanwaltschaft und den Senat war sie zu einem großen Teil auf Spenden der Tech-Elite des Silicon Valley angewiesen, wie die New York Times berichtete. Auch Trump lebt von den Geldern der Digital-Milliardäre.
Fazit: Trump und Harris sind nicht definiert durch Parteizugehörigkeit, Geschlecht, Religion, Hautfarbe oder Alter, sondern durch ihre Staatsangehörigkeit. Realpolitik beginnt mit der Anerkennung des einen Satzes: Beide Kandidaten sind zuerst Amerikaner.