Reinhard Mohr

Kein Protest, nirgends – der deutsche Patriotismus folgt einer verqueren Logik

25.02.2022
Lesedauer: 5 Minuten
Seltene Kundgebung in Berlin: Eine Frau in den Farben der ukrainischen Nationalflagge protestiert nahe der russischen Botschaft. Markus Schreiber / AP

Die deutsche Lehre aus der Geschichte hiess immer: nicht schuld daran zu sein, wenn irgendwo Krieg ausbricht. Sorgt nun ausgerechnet der russische Usurpator Wladimir Putin dafür, dass sich das pazifistische Deutschland endlich der Realität stellt?

Wo bleiben in diesen Tagen, da Putins Panzer rollen und ein souveräner europäischer Staat grundlos angegriffen wird, eigentlich die Demonstrationen vor russischen Botschaften und Konsulaten? Wer klebt sich dort die Hände fest? Was ist mit Greta und Luisa, die sonst zu allen Weltuntergangsfragen das Wort ergreifen? Wo sind die flammenden Aufrufe von Intellektuellen: «Hände weg von der Ukraine!», die Mahnwachen und Lichterketten, die phantasievollen Aktionen der letzten und vorletzten Generation? Was ist mit der deutschen Friedensbewegung, die jahrzehntelang gegen amerikanische Atomraketen demonstriert hat, gegen den ewigen «US-Imperialismus»? Wo also bleibt die vielbeschworene internationale Solidarität gegen Faschismus und Krieg?

Nitschewo! Die westlichen Gesellschaften, allen voran das friedliebende Deutschland, sind längst auf einer ganz anderen Stufe der historischen Entwicklung angekommen, in jenem Posthistoire, das die Grünen bisher stolz in «Bullerbü» umbenannt haben.

In grauen Vorzeiten war das noch ganz anders gewesen. Am 10. Oktober 1962 erschütterte ein politischer Skandal die junge Bundesrepublik. Der «Spiegel» hatte in einem grossen Bericht unter dem Titel «Bedingt abwehrbereit» festgestellt, dass die Bundeswehr wegen ihrer mangelhaften Ausstattung zu der von der Nato proklamierten «konventionellen Vorwärtsverteidigung» im Fall eines Angriffs der Truppen des Warschauer Pakts nicht in der Lage wäre. Eine wirksame Abschreckung könne so nicht gewährleistet werden. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer sah einen «Abgrund von Landesverrat», die Redaktion des «Spiegels» wurde durchsucht und Haftbefehle gegen die verantwortlichen Redakteure erlassen. Der «Spiegel»-Gründer und -Herausgeber Rudolf Augstein kam in Untersuchungshaft, 103 Tage lang. Am Ende wurde er rehabilitiert, zwei Staatssekretäre und Verteidigungsminister Franz Josef Strauss, Initiator der «Spiegel»-Affäre, mussten zurücktreten, was als Sieg der Pressefreiheit gefeiert wurde.

«Nie wieder Krieg»

Heute, sechzig Jahre danach, sind Informationen über den schlechten, teilweise katastrophalen Zustand der Bundeswehr ein offenes Geheimnis, ja eine Banalität. Doch anders als 1962 interessierte das bis vor wenigen Wochen niemanden in Deutschland, von Spezialisten und ein paar Fachjournalisten abgesehen. Der Grund ist klar: Die Deutschen sind bis ins Mark Pazifisten geworden, überspitzt gesagt: bis in die DNA hinein.

So wurde zwanzig Jahre lang in der deutschen Öffentlichkeit – gemäss dem flammenden Nachkriegsversprechen «Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen!» – beispielsweise möglichst jeder Hinweis darauf peinlichst vermieden, dass gegen die Taliban in Afghanistan ein mörderischer Krieg geführt wurde. Allein der Gedanke, dass irgendwann einmal der Fall eintreten könnte, in dem die eigene, so angenehm alltäglich gewordene westlich-europäische Freiheit jenseits aller «Dialogbereitschaft» ganz robust, am Ende sogar unter Einsatz des Lebens, verteidigt werden müsste, scheint so weit entfernt wie der Mond.

So dienen die notorischen Lehren aus der Geschichte hauptsächlich der eigenen Gewissensberuhigung: Wir stehen auf der friedlichen, moralisch richtigen Seite und begehren, nicht schuld daran zu sein, wenn irgendwo Krieg ausbricht. Das hindert Deutschland freilich nicht, der viertgrösste Waffenexporteur der Welt zu sein. Hauptsache, es sind immer die anderen, die schiessen und sich schuldig machen. Wir sind die Guten und überwachen den Luftraum, schicken Ausbilder und Verbandszeug, nehmen Millionen Flüchtlinge auf und überweisen Milliarden an internationale Hilfsfonds.

Putins Erpressung

Dass wir, anders als andere westliche Länder, der Ukraine im Augenblick der grössten Bedrohung durch Putins kriegerische Einkesselung keine Waffen liefern, mag nachvollziehbare taktisch-politische Gründe haben, verkörpert aber dennoch eine verquere Logik, die weltweit wohl nur Deutsche verstehen können, deren Grossväter noch vor Stalingrad lagen: Gerade weil die Nazi-Truppen 1941 in der Ukraine die schlimmsten Kriegsverwüstungen begangen haben, müssen wir uns dort nun extreme militärische Zurückhaltung auferlegen. Motto: Nie wieder Krieg! Frieden schaffen ohne Waffen! Bloss nicht provozieren!

Dieses nachgerade querdenkerische, zugleich sehr praktische Schuldbewusstsein führt geradewegs zu einer schwarzen Ironie der Geschichte, denn Putin unternimmt modellhaft ziemlich genau das, was Hitler 1938 gegenüber den Westmächten erfolgreich vorexerziert hat: eine brutale Erpressung, die Androhung eines Krieges mitten in Europa, um durch die Inbesitznahme fremder Territorien die eigenen strategischen Ziele zu erreichen, und seien sie noch so verrückt. Dass seine übelste Soldateska, die auch schon im Nahen Osten und in Afrika wütet, ausgerechnet «Gruppe Wagner» heisst, mag ein weiterer Hinweis auf historische Parallelen sein, so schief sie auch sonst sein mögen.

Putin weiss, dass die modernen, liberalen Zivilgesellschaften des Westens längst in die Phase des Postheroismus eingetreten sind. «Wokeness» passt so wenig zum bewaffneten Widerstand wie Gendersternchen zum Gegenangriff.

Gefährliche Realitätsverweigerung

Dazu kann Putin sich auf einen tiefsitzenden Antiamerikanismus verlassen, der seine Wurzeln rechts wie links hat, eine Art Selbstverachtung des Westens, die als Gesellschaftskritik getarnte Selbstverleugnung. Es handelt sich ganz offensichtlich um eine neue deutsche Ideologie, ein Begriff, mit dem Karl Marx damals dem Hegelschen Idealismus zu Leibe rückte.

Heute, bald 200 Jahre später, lautet die ideologiekritische Diagnose auf gefährliche Realitätsverweigerung – eine spiesserhafte Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit, gepaart mit einer geradezu schläfrigen Gleichgültigkeit gegenüber der akuten Bedrohung unserer Freiheit.

Auch wenn berühmte Historiker es anders sehen – die Parallele ist 1938, nicht 1914. Schlafwandler sind wir trotzdem gewesen. Bis gerade eben.

Denn eines hat Putin, dem offene, demokratische Freiheitsgesellschaften zutiefst wesensfremd sind, wohl nicht bedacht: Mit seiner geradezu tollwütigen Aggression hat er die Schlafwandler aufgeweckt. Zu gross ist die Empörung, zu offensichtlich die Unverschämtheit all seiner dreisten Lügen, mit denen er Europa und die freie Welt an der Nase herumführt.

Und so ist, nach wochenlanger Schockstarre, für den kommenden Sonntag immerhin eine «Menschenkette für den Frieden» annonciert, die sich von der ukrainischen zur russischen Botschaft in Berlin ziehen soll. Überraschend deutlich formuliert der Aufruf überwiegend linker, friedensbewegter Gruppen die dramatische Lage: Putin kündige das Minsker Friedensabkommen auf, breche das Völkerrecht. «Als Alleinherrscher entwickelt er Russland zur Hegemonialmacht – die sich benachbarte Länder einverleibt oder abhängig macht und Demokratien zu Fall bringt.»

Sollte nun am Ende ausgerechnet der russische Usurpator Wladimir Wladimirowitsch dafür sorgen, dass der deutsche Pazifismus sich endlich der Realität stellt?

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