Der Kanzler und Frankeichs Präsident erleiden schwere Niederlagen. Emmanuel Macron reagiert und setzt Neuwahlen an, Scholz schweigt. Die Ampelkoalition wurde abgestraft, von der Leyen erhält Rückenwind. Ein Kommentar.
Olaf Scholz und Emmanuel Macron sind die beiden bestimmenden Politiker der europäischen Politik und beide wurden bei dieser Europawahl regelrecht abgestraft. Die Wähler haben die Parteien des deutschen Kanzlers und des französischen Staatspräsidenten geradezu deklassiert. Die SPD landet hinter der AfD auf einem niederschmetternden dritten Platz und Macrons Bewegung verschwand förmlich hinter dem in dieser Höhe besorgniserregenden Erfolg des Rassemblement National.
Während Scholz und seine Genossen am Sonntagabend zwar die Niederlage eingestanden, ansonsten aber scheinbar unerschütterlich „business as usual“ propagierten, zog Macron in bemerkenswerter Geschwindigkeit die Konsequenz. Mit der Auflösung des Parlaments und einer Neuwahl am 30. Juni versucht der französische Präsident die Flucht nach vorn.
Bis zur regulären nächsten Präsidentschaftswahl 2027, bei der Macron nach zwei Amtsperioden nicht mehr antreten darf, bleibt ihm dann noch Zeit, eine Trendumkehr zu versuchen und sein bisheriges Versäumnis zu beseitigen, nämlich rechtzeitig einen echten Nachfolger aufzubauen.
Wo bleibt die Selbstachtung?
Scholz hingegen denkt bislang nicht daran, im Bundestag auch nur die Vertrauensfrage zu stellen. Vielleicht zwingt ihn aber der so mutige wie verzweifelte Schritt des französischen Staatspräsidenten dazu, sich zumindest der Gefolgschaft seiner Ampelkoalition zu versichern und sich im Parlament das Vertrauen aussprechen zu lassen. Das wäre das Mindeste, was nach diesem katastrophalen Ergebnis erforderlich ist, um nicht auch die politische Selbstachtung zu verlieren.
Wenn die Kanzlerpartei SPD nach knapp drei Regierungsjahren bei rund 14 Prozent landet und im Osten stellenweise sogar unter die Fünf-Prozent-Hürde rutscht, wenn der zweite Partner in Gestalt der Grünen rund ein Drittel seiner Wähler verliert und die FDP als Dritter im Bunde mit nur fünf Prozent Zustimmung an der politischen Todeszone angekommen ist – dann kann man auch einmal ganz grundsätzlich überlegen, ob diese Regierung überhaupt noch in der Lage ist, dem Land und ihren Aufgaben gerecht zu werden.
Scholz‘ Strategie als „Friedenskanzler“ ist gescheitert
Eine Abstrafung der amtierenden Regierungen und ein Erfolg der Rechtsradikalen lässt sich auch in anderen EU-Staaten wie etwa Österreich beobachten. Unter dem Strich jedoch hat die rechtsradikale Plattform „Identität und Demokratie“ (ID) gerade einmal elf Sitze hinzugewonnen und stellt mit ihren voraussichtlich 60 Mandaten in dem 705 Sitze großen Europäischen Parlament in Straßburg alles andere als eine bestimmende Kraft dar. Auch die Rechtskonservativen der EKR haben nur einen minimalen Zuwachs erringen können.
Der Versuch von SPD, Grünen und anderen linken Parteien in der EU, die Europawahl weitgehend ohne Inhalte zu bestreiten und ausschließlich zum Plebiszit „gegen rechts“ umzudeuten, ist gründlich schiefgegangen. Das gilt auch für den Versuch von Scholz, sich als selbst ernannten „Friedenskanzler“ zu empfehlen. Erstens ist das eine Anmaßung, denn keiner seiner ernsthaften Wettbewerber wäre gegen Frieden und für Krieg. Zweitens passt es nicht zu einem „Friedenskanzler“, gleichzeitig für Milliarden Euro Waffen an die Ukraine zu liefern und den Beschuss russischen Gebiets zu ermöglichen.
Erfolg für Ursula von der Leyen
Für die siegreiche EVP war die Wahl ein Erfolg, wenngleich man trotz der deutlichen Führung der Union in Deutschland anmerken muss, dass 30 Prozent nicht gerade umwerfend sind, wenn man bedenkt, wie tief die Bundesregierung am Boden liegt. Dass die Union es auch in dieser Lage nicht schafft, den 30-Prozent-Deckel zu lüften, zeigt die Grenzen eines potenziellen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz auf. Mit Blick auf ganz Europa aber hat die EVP ihren Vorsprung im Europäischen Parlament deutlich ausbauen können.
Für Ursula von der Leyen ist dieses Resultat zwar keine Garantie für eine zweite Amtszeit an der Spitze der EU-Kommission. Aber wenn die Staats- und Regierungschefs am 17. Juni zum Informellen Rat in Brüssel zusammenkommen, müssen sie schon sehr gewichtige Gründe vorbringen, um einer in Wahlen siegreichen Präsidentin die Nominierung zu versagen. Das Votum der europäischen Wähler ein weiteres Mal zu ignorieren und jemanden wie etwa Mario Draghi vorzuschlagen, der sich nirgendwo zur Wahl gestellt hat, würde einen demokratischen Affront darstellen, der in dieser politischen Stimmungslage äußerst riskant wäre.
Akzentverschiebung für Wirtschaft
Für die Wirtschaft steckt in dem Wahlergebnis das Signal, dass sich der politische Wind gedreht hat. Der grüne Mainstream in Europa ist ebenso wie der Green Deal in den Hintergrund gerückt. Krieg, Energiepreisexplosion, Inflation und eine grassierende Unsicherheit über die Folgen und das Tempo der ökologischen Transformation in der Industrie haben die politischen Gewichte verschoben. Gewachsen ist auch die Sorge, dass Europa im Muskelspiel der Supermächte zwischen China und den USA zerrieben wird. Zur Selbstbehauptung sind daher mehr Wettbewerbsfähigkeit und eine Entlastung der europäischen Wirtschaft vonnöten.
Wie die Weichen in Europa künftig gestellt werden, entscheidet sich in den kommenden Wochen. Die Wahl der Kommission samt Führung und die Neubesetzung der wichtigsten Schlüsselpositionen stehen jetzt an und werden im Lichte der Wahlergebnisse entschieden. Der Trend lautete mehr konservativ-bürgerlich Politik und weniger grüne und soziale.
Wichtig ist auch die Tatsache, dass die Gefahr der Rechtspopulisten und Extremen weniger groß ausgefallen ist als befürchtet wurde. Zum Glück sind jene Kräfte, die entweder den Austritt aus der EU fordern oder die Europäische Union wieder in ein angebliches „Europa der Nationen“ verwandeln wollen, nicht so stark geworden, dass sie eine bestimmende Rolle spielen können. Es lohnt sich aber auch für die Wirtschaft, mehr als früher darauf zu achten, dass sich diese Leute nicht weiter ausbreiten – auch in den Unternehmen nicht.
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