Bundesnetzagentur

Herr Müller, sind Sie der neue Oberzensor?

16.10.2024
Lesedauer: 9 Minuten
Herr der „Trusted Flagger“: Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur Quelle: Friedrich Bungert/SZ Photo/picture alliance

Was nicht verboten, ist erlaubt – gilt dieser Grundsatz auch künftig in Europa? Oder schicken sich EU und Bundesregierung gerade an, das Internet nicht nur von strafbaren Inhalten, sondern von politischer Kritik zu säubern? WELT hat beim Präsidenten der Bundesnetzagentur nachgefragt.

Mithilfe von „Meldestellen“ will die EU besser gegen illegale Inhalte im Internet vorgehen, Kritiker befürchten Zensur. Anfang Oktober ernannte die Bundesnetzagentur die erste deutsche Meldestelle – prompt geriet ihr Präsident Klaus Müller in die Kritik.

Müller, 53, ist studierter Volkswirt und saß für die Grünen im Bundestag und im Landtag von Schleswig-Holstein. Von 2000 bis 2005 war er dort Landesumweltminister, von 2014 bis März 2022 Vorsitzender der Verbraucherzentrale Bundesverband. Seither leitet er die Bundesnetzagentur, eine für den Wettbewerb in den Netzmärkten Strom, Gas, Telekommunikation, Post und Bahn zuständigen Bundesbehörde mit Sitz in Bonn. WELT sprach mit ihm per Videokonferenz mit Webex, einer Anwendung, die deutsche Behörden aus Sicherheitsgründen nutzen – und bei der jüngst erhebliche Sicherheitslücken aufgedeckt wurden.

WELT: Herr Müller, finden Sie, dass bei der Deutschen Bahn alles prima läuft?

Klaus Müller: Nein.

WELT: Ich frage, weil man annehmen könnte, dass Sie als Präsident der Bundesnetzagentur allein mit der Bahn genug zu tun haben. Trotzdem hat Ihre Behörde zusätzlich zur Bahn und allem anderen eine neue Aufgabe übernommen: gegen „illegale Inhalte, Hass und Fake News im Netz“ vorzugehen.

Müller: Die Bundesnetzagentur ist für Märkte zuständig, die besonderer Regeln bedürfen. Jetzt hat der Gesetzgeber gesagt: Auch die digitalen Plattformen regeln sich nicht von selbst, und auch Daten gehören heute zur Infrastruktur. Und gemäß dem vom Europäischen Parlament und vom Europäischen Rat beschlossenen Digital Services Act hat der Bundestag diese Aufgabe der Bundesnetzagentur übertragen. Es geht dabei um die beiden Säulen Produktsicherheit und Meinungsfreiheit.

WELT: Für Grundrechtsfragen ist sonst das Bundesjustizministerium zuständig. Ihre Behörde hingegen ist Robert Habeck unterstellt. Was qualifiziert die Bundesnetzagentur in Sachen Grundrechte – abgesehen davon, dass ihr Chef dasselbe Parteibuch wie sein Dienstherr besitzt und sich beide gut aus Schleswig-Holstein kennen?

Müller: Ich korrigiere Sie ungern, aber die Bundesnetzagentur ist zwei Ministerien unterstellt, sowohl Wirtschaft als auch Digitales und Verkehr. Federführend bei der Umsetzung des Gesetzes über digitale Dienste war Digitalminister Volker Wissing. Und wir haben primär eine koordinierende Rolle.

WELT: Sie haben kürzlich den ersten sogenannten Trusted Flagger bekanntgegeben. Welche Aufgaben haben diese „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“?

Müller: Der Digital Services Act setzt nicht allein auf staatliche Behörden, sondern auch auf Dritte: auf den privilegierten Zugang von Wissenschaftlern zu den Daten der Plattformen, auf außergerichtliche Streitbeilegungsstellen und eben auf vertrauenswürdige Hinweisgeber. Für Privatpersonen war es oft schwierig, mit Plattformen in Kontakt zu treten, wenn sie etwas gelöscht haben wollten oder wenn sie meinten, dass etwas zu Unrecht gelöscht wurde. Die Trusted Flagger sollen hier eine Brückenfunktion übernehmen.

WELT: Wie wird man Trusted Flagger?

Müller: Damit eine Einrichtung zertifiziert werden kann, muss sie laut EU-Recht drei Kriterien erfüllen: Sie muss über besondere Sachkenntnisse verfügen, unabhängig von Onlineplattformen sein und ihre Meldungen sorgfältig, genau und objektiv übermitteln.

WELT: Ihre Behörde ernennt nur diejenigen, die Meldung erstellen, korrekt?

Müller: Ja, genau. Wir zertifizieren Trusted Flagger und die Plattformen müssen deren Meldungen vorrangig behandeln. Natürlich kann man sich auch an uns wenden, wenn man der Meinung ist, dass eine Plattform sich nicht um Beschwerden kümmert. Das würden wir nach einem in Europa definierten System weiterleiten: Entweder an eine Schwesterbehörde, wenn es um eine große Plattform geht, die zum Beispiel in Irland sitzt. Oder ans Bundeskriminalamt oder die Landesmedienanstalten. Für inhaltliche Entscheidungen ist die Bundesnetzagentur weiterhin nicht zuständig. Und die Trusted Flagger erstellen Meldungen an die Plattformen. Ob etwas gelöscht wird, entscheiden die Plattformbetreiber.

WELT: Wo kann ich mich über eine Löschung beschweren?

Müller: Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Es geht nicht nur um strafbare Inhalte, wie zum Beispiel Terrorismus, Holocaustleugnung oder Beleidigung. Genauso gibt es das Phänomen des Overblockings: dass Beiträge ohne Grundlage gelöscht werden.

WELT: An wen kann ich mich in diesem Fall wenden?

Müller: Zunächst an die Plattform. Wenn Sie dann mit deren Entscheidung nicht einverstanden sind, gibt es Streitbeilegungsstellen und schließlich Gerichte. Sie haben also mehrere Möglichkeiten, um Ihr Recht durchzusetzen.

WELT: In der Presseerklärung, mit der Sie „REspect!“ vorgestellt haben, heißt es, der Schwerpunkt des Vereins liege in der „Identifizierung von Hassrede, terroristischer Propaganda und anderer gewalttätigen Inhalte“.

Müller: Wir haben uns vorlegen lassen, was dieser Verein ans Bundeskriminalamt gemeldet hat und wo das BKA tätig geworden ist. Und wir haben gesehen, dass es nach dem Überfall auf Israel bei einem großen Teil der gemeldeten oder weitergeleiteten Inhalte um Antisemitismus ging.

WELT: An derselben Stelle werden Sie so zitiert: „Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden.“ Das betrifft mehr als nur strafbare Äußerungen.

Müller: Dafür wurden wir stark kritisiert und haben präzisiert, was damit gemeint war: illegale Inhalte, illegale Hassrede, illegale Fake News.

WELT: Kann Hass eine Meinung sein?

Müller: Darüber müsste ich nachdenken. Aber entscheidend ist, dass der Digital Services Act dafür keine Grundlage bietet. Es geht allein um illegale Inhalte.

WELT: So eindeutig scheint mir das europäische Gesetz gerade nicht. Da ist zum Beispiel ist von „tatsächlichen oder absehbaren nachteiligen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte“ die Rede. Und Familienministerin Lisa Paus hat ausdrücklich auch Inhalten „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ den Kampf angesagt. Das klingt, als würde eine entscheidende Grenze verwischt: Was ist gesetzlich verboten, was vielleicht hässlich, dumm oder falsch, aber erlaubt?

Müller: Das ist eine sehr legitime Frage, die in den politischen Raum gehört. Ein Beispiel: In der Diskussion um den Digital Services Act tauchte die Sorge auf, dass Falschmeldungen über Wahltermine verbreitet werden. Ich glaube nicht, dass das in Deutschland ein großes Problem wäre, aber in anderen Ländern fand man das relevant. Ist die Verbreitung eines falschen Wahltermins illegal? Darüber müsste man sich juristisch unterhalten. Es gibt aber Plattformen, die sagen: „Solche Falschmeldungen sind laut unseren Nutzungsbedingungen nicht erlaubt.“ Rechtlich sind Fake News in vielen Fällen nicht illegal.

WELT: Anfang 2003 hätte die US-Regierung die Aussage, der irakische Diktator Saddam Hussein besitze keine Massenvernichtungswaffen, als Fake News bezeichnet. Heute wissen wir, dass diese Behauptung zu diesem Zeitpunkt eine Lüge war. Was Fake News sind, kann eine politisch umkämpfte Frage sein – und nur selten ein juristisch klarer Fall.

Müller: Wir sind nicht für die amerikanische Regierung tätig.

WELT: Ich könnte auch Beispiele aus der Corona-Zeit nennen.

Müller: Ich sehe diese Gefahr, die Sie beschreiben. Aber die Bundesnetzagentur leistet gemäß des Digital Services Acts einen Beitrag, gegen illegale Inhalte vorzugehen und zugleich die Meinungsfreiheit zu schützen.

WELT: Ich verstehe wiederum den Wunsch, Desinformation zu bekämpfen. Nach dem 11. September verbreitete sich – noch ohne soziale Medien, aber schon über das Internet – das infame Gerücht, soundsoviele tausend jüdische Mitarbeiter des World Trade Centers seien vorab gewarnt worden.

Müller: Es gibt eine berechtigte gesellschaftliche Debatte darüber, wie man mit Desinformationen umgeht, die unwahr und völlig inakzeptabel sind. Aber als Bundesnetzagentur maßen wir uns darüber keine Urteile an.

WELT: Claudia Roth hat mal gesagt: „Die sozialen Medien haben sich zu einer der größten globalen Bedrohungen für die Demokratie entwickelt. Gegen diesen digitalen Faschismus und diese Welle von Fake News müssen sich alle Demokratien wappnen.“ Stimmen Sie dem zu?

Müller: Nein.

WELT: Jetzt sind Sie nicht in meine Falle getappt: Dieses Zitat stammt von Recep Tayyip Erdogan.

Müller: Das macht es nicht besser.

WELT: Worauf ich hinaus will: Autokraten haben das Label „Bekämpfung von Desinformation“ für sich entdeckt. Auch in Ihrer Presseerklärung ging es um Fake News.

Müller: Noch einmal: Wir haben den zitierten Satz so gemeint, dass sich das Adjektiv „illegal“ auf die nächsten drei Substantive bezieht.

WELT: Aber Herr Müller, es gab in der letzten Zeit besorgniserregende Fälle: Innenministerin Nancy Faeser mit dem Verbot des „Compact“-Magazins, das vom Bundesverwaltungsgericht einkassiert wurde, Bettina Stark-Watzingers Forschungsministerium, das politisch unliebsamen Professoren Fördergelder entziehen wollte, andere Angehörige der Bundesregierung mit ihren gescheiterten Klagen gegen das Portal „Nius“. Können Sie nachvollziehen, wenn Ihr Haus als „neue Zensurbehörde“ bezeichnet wird?

Müller: Wenn Sie mich gefragt hätten, ob ich Sorgen nachvollziehen könne, hätte ich „Ja“ gesagt. So wie Sie die Fragen gestellt haben, beantworte ich sie glasklar mit „Nein“. Wir sind eine Behörde, wir halten uns an das Recht.

WELT: Aber wenn sich immer wieder Behörden von Gerichten und manchmal sogar nachgeordnete Gerichte vom Bundesverfassungsgericht sagen lassen müssen, dass sie gegen geltendes Recht verstoßen haben, wie können die Bürger darauf vertrauen, dass ein Verein die Grenzen der Presse- und Meinungsfreiheit besser ausloten kann?

Müller: Noch einmal: Die Trusted Flagger entscheiden nicht über Löschungen und müssen sich bei ihren Hinweisen an Recht und Gesetz halten. Und die Bundesnetzagentur wird ihre Arbeit regelmäßig überprüfen und kann eine Zertifizierung wieder entziehen.

WELT: Auch darin liegt möglicherweise ein Problem: Bei der Fördergeldaffäre waren es Verwaltungsjuristen, die den Wunsch aus der Führung des Forschungsministeriums als rechtswidrig zurückgewiesen haben. Eine Ministerialbürokratie kann sich so was trauen, während eine NGO abhängig ist von den Fördergeldern, die Sie zahlen.

Müller: Moment: Die Bundesnetzagentur zahlt keine Fördergelder.

WELT: Entschuldigung, mein Fehler.Wer finanziert die Trusted Flagger?

Müller: Sie müssen sich selbst finanzieren – aus Mitgliedsbeiträgen, Stiftungskapital, Drittmitteln usw. „REspect!“ bekommt meines Wissens nach Geld von den Ländern Baden-Württemberg und Bayern und vom Familienministerium.

WELT: Aber wie wird dieser Verein reagieren, wenn aus dem Haus seines Geldgebers im Sinne der Ministerin der Wunsch kommt, auch gegen Inhalte „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ vorzugehen?

Müller: Wir können nur überprüfen, wie der Verein bisher gearbeitet hat. Und, wie gesagt, wir werden die Arbeit regelmäßig überprüfen.

WELT: Warum wird die Aufgabe, strafbare Inhalte zu melden, an nichtstaatliche Einrichtungen outgesourct? Weil man gegen die Maßnahme eines Vereins nicht vor einem Verwaltungsgericht klagen kann?

Müller: Ich habe sehr lange für den Verbraucherschutz gearbeitet, ich kenne die Diskussion um die Privatisierung von staatlichen Aufgaben. Aber darum weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es Felder gibt, bei denen staatliche Akteure nicht so schnell und bürgernah arbeiten. Darum hat das Europäische Parlament gesagt: Bei der Plattform-Regulierung wollen wir beides, sowohl Behörden und Gerichte als auch einen Pfeiler aus Wissenschaft, Trusted Flaggern und ziviler Streitbeilegung.

WELT: Ahmad Gaafar, der Chef von „REspect“steht inzwischen wegen eines Fotos auf seinem Facebook-Profil in der Kritik. Darauf posiert er mit dem bekannten britischen Bischof Justin Welby und dem ägyptischen Großimam Ahmed el-Tayeb – als Scheich der Azhar-Universität eine Autorität des sunnitischen Islams, der aber in der Vergangenheit Selbstmordanschläge der Hamas gerechtfertigt hat.

Müller: Wir wissen im Moment nicht, in welchem Kontext dieses Foto entstanden ist. Sollten uns begründete Zweifel an der Eignung dieses Trusted Flaggers erreichen, würden wir diese überprüfen.

WELT: Kennen Sie das Interview, das Ahmad Gaafar nach dem 7. Oktober der „Ludwigsburger Kreiszeitung“ gegeben hat?

Müller: Nein. Ich weiß nur, dass Antisemitismus ein wichtiger Tätigkeitsbereich von ihm ist.

WELT: Herr Gaafar sagt da: „Es ist mir wichtig, klar zu benennen, dass Hamas eine Terrororganisation ist.“ Bietet der Digital Services Act ihm die Möglichkeit, gegen Aussagen vorzugehen, die ihm eine Nähe zur Hamas unterstellen?

Müller: Soweit es sich um illegale Aussagenhandelt, vereinfacht der Digital Services Act nur das Verfahren. Die Aussagen über ihn, die ich kenne, finde ich teils diffamierend, aber nicht illegal.

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