Gabor Steingart

Für die Wohlstandszerstörung gibt es zwei Schuldige – keiner von ihnen sitzt in Moskau

08.06.2022
Lesedauer: 6 Minuten
EZB Bild: Media Pioneer

Seit der Weltfinanzkrise 2008 hat die EZB rund sechs Billionen Euro zusätzlich in den Markt gepumpt. Experten sprechen von einem Geldüberhang, der sich nun in der Inflation entlädt. Längst hat eine gefährliche Kettenreaktion eingesetzt.

„Frieden ist das höchste Gut“, plakatieren derzeit die „Grünen“. Aber die Verletzung der Geldwertstabilität, würde man ihnen gerne zurufen, ist auch kein Kavaliersdelikt. Es bleibt Putins Krieg, aber es ist unsere Inflation.

Zwei Schuldige für die nun offensichtlich gewordene Zerstörung von Wohlstand und Kaufkraft sind zu benennen, die beide nicht in Moskau wohnen. Womöglich ist das sogar der Grund, warum von den Regierungsparteien keine ernsthaft mit dem Bürger über Ursache und Wirkung dieser Jahrhundert-Inflation sprechen möchte.

Beide Hände eines jeden Regierungspolitikers zeigen derzeit empört in Richtung Kreml, sodass für den Griff an die eigene Nase keine Hand übrig bleibt.

Krieg und Inflation: Beides kann der Staat beginnen und beenden

Dabei besitzen Krieg und Inflation eine große Gemeinsamkeit. Beides kann nur der Staat in Gang setzen und kann auch nur der Staat beenden. Der Kapitalismus mag aus Sicht seiner Kritiker böse und allgegenwärtig sein. Doch Kriegführen, Gelddrucken und Zinsenfestsetzen, das kann er aus eigener Kraft und Herrlichkeit nicht.

Wenn wir also über Inflation sprechen, dann sprechen wir über die Kernkompetenz des Staates. Ihm gehört die Notenbank. Er beruft die EZB-Präsidentin und den Bundesbank-Chef. Die Inflationsfolgen sind für die Deutschen ökonomisch, politisch und sozial von höchster Relevanz. Die Verengung der politischen Debatte auf die Frage „schwere oder leichte Waffen für die Ukraine?“ bedeutet daher eine Banalisierung und letztlich auch eine Fiktionalisierung von Politik.

Das Inflationsopfer, das sich Gott sei Dank vom Kriegsopfer unterscheidet, ist körperlich unversehrt. Die Gehaltsüberweisung des Arbeitgebers sieht aus wie immer. Der Bankauszug vom Sparbuch oder Aktiendepot weist keinerlei Besonderheiten auf.

Europäische Schuldenpolitiker verfeuerten Billionen

Aber spätestens an der Ladentheke, im Autohaus und im Reisebüro, an der Tankstelle und auch bei der Begleichung von Miete und Mietnebenkosten fällt auf, dass hier etwas ins Rutschen geraten ist, das dem Geld die Stabilität raubt und vielen Menschen die Zukunftsgewissheit.

Womit wir bei den Schuldigen wären, die jahrelang Hand in Hand gearbeitet haben. Denn die europäischen Schuldenpolitiker verfeuerten jene Billionen, die von den europäischen Notenbanken für sie gedruckt wurden. What-Ever-It-Takes war der Schlachtruf einer verrückten Zeit. Die Amerikaner würden die Beteiligten „Partners in Crime“ nennen.

Fakt ist: Seit der Weltfinanzkrise 2008 hat die EZB rund sechs Billionen Euro zusätzlich in den Markt gepumpt. Damit hat sich die Summe des Zentralbankgeldes im Euroraum seit 2008 mehr als versechsfacht. Dem Löwenanteil dieses Geldes steht kein volkswirtschaftlicher Wert, also weder ein zusätzlicher Umsatz noch ein zusätzlicher Gewinn gegenüber, weshalb die Experten auch von einem Geldüberhang sprechen.

“Fünf Billionen Euro sind Pulverfässer im Keller der EZB“

Dieser Geldüberhang entlädt sich nun in der Inflation. Professor Hans-Werner Sinn beziffert diesen Überhang auf fünf Billionen Euro und sagt: „Die fünf Billionen Euro sind Pulverfässer im Keller der EZB. Durch den Effekt der steigenden Nachfrage der Staaten, die sich verschuldet haben, ist ein Teil der Fässer in Brand geraten. Der Zündfunke war die Angebotsverknappung durch Corona.“

Alle Versprechungen der deutschen Regierung – Lindner: gegen steigende Preise anzugehen sei „oberstes Gebot“ – sollen beruhigen, aber können nicht helfen. Dafür ist die Wucht der Ereignisse zu groß. Längst ist eine Kettenreaktion in Gang gekommen. Weitere Sprengsätze sind unterwegs, um auch die übrigen Pulverfässer zu entzünden:

Sprengsatz 1: Die Märkte für Energie können sich so nicht beruhigen. Der Krieg in Europa, die monopolartige Struktur der Ölkonzerne und die deutsche Abhängigkeit von importierter Energie, die durch die Gleichzeitigkeit von Kohle- und Atomausstieg noch verschärft wird, bedeuten den perfekten Sturm für die Preisentwicklung.

Die staatlichen Schuldner sind wenig einsichtig

Sprengsatz 2: Die Märkte für Rohstoffe und Halbfertigwaren haben sich, bedingt durch das Zusammentreffen von Pandemie und Krieg, verkrampft. Vielerorts sind die Lieferketten noch immer durchbrochen. Die weltweite Nachfrage und das weltweite Angebot passen in vielen Produktgruppen derzeit nicht zusammen. Plus 33,5 Prozent gegenüber April 2021 bei den Preisen für Halbfertigwaren wurden eben erst gemessen.

Die Erzeugerpreise explodieren.

Sprengsatz 3: Die Opfer der bisherigen Preisentwicklung werden sich, zumindest da wo sie gewerkschaftlich organisiert sind, mit allen Kräften gegen die Reduktion ihres Lebensstandards und die Eintrübung ihrer Zukunftsperspektiven wehren. Die Chefs der Einzelgewerkschaften, allen voran die IG Metall, haben keine andere Chance, als für ihre Mitglieder auf die Barrikaden zu gehen. Die Preisspirale treibt die Lohnspirale. Und in Kürze wird die Lohnspirale die Preisspirale treiben.

Sprengsatz 4: Die staatlichen Schuldner sind wenig einsichtig. Sie sind dabei, die auf Pump finanzierten Ausgaben weiter zu expandieren – im Süden Europas, aber nicht nur dort. Ohne Rücksicht auf finanzielle Verluste werden auch in Deutschland soziale Entlastungspakete geschnürt, werden Kohle- und Kernkraftwerke vom Netz genommen und startet das größte schuldenfinanzierte Aufrüstungsprogramm der bundesdeutschen Geschichte.

Die EZB ist eine Gefangene ihrer Aktien- und Anleihenaufkaufpolitik

Sprengsatz 5: Die EZB müsste in dieser Situation den Wert des Geldes heraufsetzen, also die Zinsen erhöhen. Aber genau das traut sie sich nicht. Sie ist die Gefangene ihrer Aktien- und Anleihenaufkaufpolitik mit angeschlossener Nullzinspolitik, denn die hochverschuldeten Länder Griechenland (193 Prozent des BIP), Italien (150 Prozent des BIP), Frankreich (112 Prozent) und Portugal (127 Prozent) können ihre Schulden bei einem deutlich erhöhten Zinssatz nicht mehr tragen. Sie sind nicht produktiv genug. Sie sind süchtig nach billigem Geld. Eine effektive Inflationsbekämpfung löst bei ihnen – und womöglich eben nicht nur bei ihnen – eine tiefe Rezession aus.

Sprengsatz 6: Es gibt derzeit keinen Politiker in Deutschland, der, ausgestattet mit Fachkompetenz und persönlicher Glaubwürdigkeit, das ernsthafte Gespräch mit dem Bürger suchen könnte. Christian Lindner ist kein zweiter Karl Schiller und Robert Habeck kein neuer Otto Graf Lambsdorff. Aber irgendjemand müsste mit den Wählern über Leistung und Produktivität und damit auch über die drohende Überlastung des deutschen Sozialprodukts sprechen.

Fazit: Die wundersame Geldvermehrung stößt an ihre natürlichen Grenzen. Der deutsche Wohlstand der vergangenen 15 Jahre war der beste Wohlstand, den man für Geld kaufen konnte.

Das könnte Sie auch interessieren

Thyssenkrupp-Krise
26.11.2024
Pläne zu Regierungsumsturz und Lauterbach-Entführung
25.11.2024
Nato-Truppen in der Ukraine
25.11.2024

Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

zehn − 4 =

Weitere Artikel aus der gleichen Rubrik

Gunnar Schupelius – Mein Ärger
17.11.2024

Neueste Kommentare

Trends

Alle Kategorien

Kategorien