Oliver Stock

Er hat seine Sache gut gemacht

28.01.2022
Lesedauer: 4 Minuten

Benedikt XVI. war der erste Papst, der sich mit Missbrauchsopfern traf. Wer ihn jetzt kritisiert, muss wissen: Das Geschäftsgeheimnis der Kirche heisst Langsamkeit.

s ist noch gar nicht so lange her, da folgte ich als deutscher Reporter einer Einladung ins Benediktiner Kloster nach Einsiedeln, wo sich der Europachef von Microsoft etwas Besonderes ausgedacht hatte: Er wollte dort oben zwischen Fels und Schnee und Gipfeln die neuste Version des Betriebssystems Windows vorstellen. Als er es sich nicht verkneifen konnte, eine Bemerkung über die Modernität seiner Erfindung zu machen, die so stark im Kontrast stehe zu den ehrwürdigen Mauern, schritt der Gastgeber und damalige Abt Martin Werlen dazwischen: «Erfinde du, mein Sohn, ein Betriebssystem, das 2000 Jahre hält.»

Der Gedanke geht mir seither nicht aus dem Kopf. Die Kirche ist die erfolgreichste Firma der Welt. Ihre Vision heisst: ewiges Leben. Ihre Dienstleistung ist die Seelentröstung, ihr Geschäftsmodell gleicht einer Art Aktiengesellschaft, viele zahlen in der Erwartung einer künftigen Dividende. Und auch ihr Geschäftsgeheimnis kennen wir: Es ist die Langsamkeit. Dieser Vierklang hat sie 2000 Jahre überleben lassen – und ich hoffe, dass das auch noch mindestens 2000 Jahre so anhält.

Licht auf die Täter

Lassen wir uns für einen Augenblick auf diese Sichtweise ein, auch wenn sie aller Spiritualität entbehrt. Denn wenn die Kirche keine moralische Instanz, sondern bloss eine Firma ist, dann lässt sie sich auch reparieren. Und Reparaturarbeiten sind unzweifelhaft nötig. Die Missbrauchsfälle sind für die Opfer ein Drama ohnegleichen. Sie werfen ein unglaubliches Licht auf die Täter und ihre Umgebung, die es so weit kommen liess. Und sie zeugen von Hilflosigkeit bis hin zur Verantwortungslosigkeit jener Führungsfiguren, die geschehen liessen, was geschah, und die nicht den Mumm besassen, aufzuklären und Konsequenzen zu ziehen.

Reparaturarbeiten sind nötig. Die Missbrauchsfälle sind für die Opfer ein Drama ohnegleichen.

Aber wenn wir mal die Moral, von der wir sowieso und ständig zu viel an Bord haben, vernachlässigen und stattdessen vorgehen, wie eine grosse Firma vorgehen würde, gibt es eine gute Chance, das Unternehmen wieder flottzumachen. Was es dringend braucht, sind ein paar Corporate-Governance-Vorschriften, Regeln zur guten Unternehmensführung, die idealerweise der Chef mit dem Betriebsrat einfädelt, seinen Aktionären vorlegt und für deren Umsetzung er anschliessend sorgt. So etwas dauert in jüngeren Unternehmen ein halbes Jahrzehnt und mehr.

Nehmen wir VW. 85 Jahre alt, schlägt sich der Weltkonzern seit sieben Jahren mit der Tatsache herum, dass Hunderte von Ingenieuren und Technikern einen gigantischen Betrug ausgeheckt und umgesetzt haben, um Kunden hinters Licht zu führen. Der Dieselskandal ist bis heute nicht restlos aufgeklärt, manche, die damals in Verantwortung waren, sind es heute noch. Aber: Die Macht des Chefs ist seither geschrumpft, und beim Produkt beschreiten die Wolfsburger neue Wege.

Im Vergleich wird ein 2000-jähriges globalisiertes Unternehmen wie die Kirche schnell sein, wenn es einen Skandal innerhalb eines halben Jahrhunderts aufklärt. Der erste Chef, der damit angefangen hat, war Kardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. In sein langes Leben fallen die Taten und deren Entdeckung sowie die Suche der Kirche nach einem geeigneten Umgang damit. Ratzinger schritt voran.

In seinem späteren Pontifikat kam es zum ersten Mal dazu, dass Missbrauchsfälle von der Kirche eingestanden wurden, dass Priester, die sich schuldig gemacht hatten, in den Laienstand versetzt wurden und dass sich die Kirche, die bis dahin über zwei Jahrtausende nach ihrem eigenen Recht geurteilt hatte, den weltlichen Strafverfolgern öffnete. Als Kardinal war Ratzinger Teil eines Systems, das sexuelle Übergriffe seiner Priester ermöglichte und in dem die Verantwortlichen wegschauten. Als Benedikt XVI. war er der erste Papst, der sich mit Missbrauchsopfern traf und in einem Hirtenbrief davon schrieb, dass «Missbrauch eine schwere Sünde gegen schutzlose Kinder vor Gott und vor anderen» sei.

Jesu Mahnung

Ich meine: Dieser Papst hat einen guten Job gemacht. Und ich halte ihm zwei Dinge zugute, die ich genauso wenig beweisen kann, wie all diejenigen ihre Vorwürfe aufrechterhalten können, die ihn jetzt mit Dreck bewerfen: Erstens befolgte er als Kirchenmann die Mahnung Jesu, sich bei Steinigungen rauszuhalten und reuigen Tätern eine zweite Chance zu geben. Und zweitens: Er ist, was sonst erst einmal in der Geschichte vorkam, freiwillig zurückgetreten und liefert damit ein Eingeständnis, dass er sich der Aufgabe nicht mehr gewachsen fühlte. Dieser Papst hat sich damit aufrechter verhalten, als es den meisten CEOs jemals gelingt.

Sein Nachfolger macht weiter, wo Benedikt aufgehört hat. Auch er wird das Thema nicht abschliessen, weil er sich aus der Erfahrung der Jahrtausende ans Geschäftsgeheimnis der Langsamkeit hält. Ich finde, das ist gut so. Denn nichts ist endlicher als eine aufgeregte Kirche.

Oliver Stock ist Wirtschaftsjournalist und Herausgeber des Magazins Markt und Mittelstand.

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