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Ursula von der Leyen weiß, wer die brillanteste Politikerin Europas ist: sie selbst natürlich. Heute hat sie ihren großen Auftritt. Um Punkt 9 Uhr schreitet sie im Plenarsaal des Straßburger Europaparlaments vors Plenum und hält vor 705 Abgeordneten ihre Rede zur Lage der Union. Föhnfrisur, Gestik, Manuskript: Alles wird sitzen. Fließend Englisch, Französisch, Deutsch natürlich. Rechenschaftsbericht, Standortbestimmung, Zukunftsvision: Größer könnten die Erwartungen an die Ansprache der EU-Kommissionspräsidentin nicht sein. Wo steht der mächtigste Staatenbund der Welt zweieinhalb Jahre nach Ende der Corona-Lockdowns und anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine? In welche Richtung steuert Europa zwischen den Machtblöcken USA und China? In ihrer letzten Parlamentsrede vor den Europawahlen im kommenden Juni will von der Leyen Antworten geben.
Muss sie auch, dringend. Die EU-Staaten und ihre Kommission kommen aus dem Krisenmanagement gar nicht mehr heraus. Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg mit sechs Millionen Flüchtlingen, Gasmangel, Energiepreisschock, Inflation, immer mehr Migranten aus Afrika, Arabien und Asien, der bröckelnde Rechtsstaat in Polen und Ungarn, Klimawandel: Die Multikrise verschärft sich, und die Kommissionschefin rotiert. Keine Woche vergeht ohne neue Ankündigungen aus ihrem Büro: Green Deal gegen die Erderhitzung, Sanktionspakete gegen Russland, Strafen gegen die Autokraten in Warschau und Budapest, Migrationspakt gegen ungesteuerte Einwanderung, Gesetze gegen Digitalkonzerne und so weiter und so fort.
Das Problem ist: Viele der Ankündigungen und Initiativen haben bisher wenig bewirkt. Zwar haben die EU-Staaten im Mai erstmals mehr Strom aus Wind- und Solarenergie gewonnen als aus fossilen Brennstoffen – doch der hochfliegende grüne „Deal“ ist bislang eher ein Sammelsurium aus Absichtserklärungen. Ob sie jemals umgesetzt werden, steht nach dem Abgang von Klima-Kommissar Frans Timmermans in den Sternen. Sein Nachfolger soll – man mag es kaum glauben – ausgerechnet ein Ölmanager werden.
Bei anderen Großprojekten sieht es ähnlich dürftig aus. Die Rechtsbeuger in Polen und Ungarn erhalten zwar einen Teil der EU-Milliarden erst später, setzen ihre Angriffe auf Justiz und Opposition aber trotzdem fort. Auch die Flüchtlingspolitik der EU ist eine Farce: Nahezu täglich ertrinken Menschen im Mittelmeer, die ost- und südeuropäischen Staaten schotten sich ab – trotzdem gelangen immer mehr Migranten nach Italien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Ein pragmatisches Einwanderungs- und Asylrecht fehlt ebenso wie ein funktionierendes Rücknahmeprozedere für abgelehnte Afghanen, Iraker, Türken. Und die Sanktionen gegen Putin? Haben die russische Wirtschaft zwar beeinträchtigt, aber keinesfalls zum Erliegen gebracht. Derweil nimmt der Politikverdruss in vielen EU-Ländern zu, wächst die Wut auf die Eliten, erstarken Faschisten und Rechtspopulisten. Die Lage ist prekär, umso dringlicher wünscht man sich klare Leitplanken von der Brüsseler Kommissionschefin und ihren 32.000 Beamten, die im aktuellen Sechs-Jahres-Haushalt 1.824 Milliarden Euro verteilen können.
Doch von Klarheit ist wenig zu spüren. Die EU wirkt angesichts der existenziellen Herausforderungen wie gelähmt – und das liegt nicht nur an dem notorischen Zwist der Staats- und Regierungschefs. Es liegt auch am Machtkampf zwischen Ursula von der Leyen und Charles Michel. Formal koordiniert der Belgier als Präsident des Europäischen Rates nur die 27 Staats- und Regierungschefs, organisiert Gipfeltreffen und vermittelt zwischen den Hauptstädten. De facto fordert er von der Leyen heraus und stellt ihren Führungsanspruch infrage: Statt als Europas Chefbürokrat zu dienen, will Michel lieber selbst gestalten.
Seine Profilierungssucht ist sprichwörtlich. „Michel verbringt viel Zeit mit öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten, statt hinter den Kulissen für reibungslose Abläufe zu sorgen“, zitiert die „Augsburger Allgemeine“ eine Brüsseler Beamtin. Der „Tagesspiegel“ schreibt von einem „politisch uneinigen Hühnerhaufen“. Der EU-Veteran Jean-Claude Junker ächzt: „Europa wäre leichter zu verstehen, wenn ein Kapitän das Schiff steuern würde.“
Charles Michel und Ursula von der Leyen tun das Gegenteil: Sie zanken sich um das Kommando an Bord des EU-Dampfers. Treffen sie ausländische Staatschefs, laden sie den jeweils anderen nicht ein. Sie stimmen sich nicht ab. Sie wetteifern darum, wer schneller Pressemitteilungen verschickt, um sich ins Rampenlicht zu rücken. Seit dem „Sofagate“-Vorfall in Istanbul vor zweieinhalb Jahren herrscht endgültig Eiszeit zwischen den beiden Streithähnen. Damals standen bei einem Treffen mit Sultan Erdoğan nur zwei Stühle bereit. Michel setzte sich zielstrebig auf den einen – während von der Leyen abseits auf einer Couch Platz nehmen musste. Es heißt, das habe sie ihm nie verziehen. Verschärft wird der Streit durch von der Leyens Selbstdarstellungsdrang. In Brüssel erzählt man sich gern den Witz: Sie leite nicht die geopolitische Kommission – sondern die egopolitische.
Von der ökonomischen Leistung her betrachtet müsste die EU die dritte Weltmacht neben den USA und China sein. Doch politisch ist sie ein Mäuschen. Sie fesselt sich selbst durch internen Zwist – zum einen den Streit zwischen den Mitgliedstaaten über Flüchtlinge, den Umgang mit Russland, die Subventionsmilliarden. Zum anderen durch den persönlichen Zoff zwischen den beiden Anführern der wichtigsten EU-Institutionen.
Das Ergebnis ist fatal: In einer Zeit zunehmender Krisen gelingt es der EU mit ihren 450 Millionen Bürgern nicht, ihre wirtschaftliche Kraft in globalen Einfluss umzumünzen. Während China und Amerika die Weichen stellen und Indien immer selbstbewusster auftritt, sind die Europäer bei vielen Entscheidungen von globaler Tragweite zum Zuschauen verdammt. Das beginnt bei der Verteidigungspolitik und endet bei technischen Standards für Maschinen. Zöge der US-Präsident irgendwann seine schützende Hand weg (zum Beispiel, weil er in einem Jahr vielleicht wieder Trump heißt), wäre Europa schutzlos dem Kreml-Aggressor ausgeliefert. In Brüssel hat man sich genauso wie in Berlin für einen skandalösen Umgang mit diesem Existenzrisiko entschieden: Man schweigt es tot und hofft, dass schon irgendwie alles gut gehen wird. Das muss man ein eklatantes politisches Versagen nennen.
Die Chefs der EU-Länder müssten sich endlich zusammenraufen und eine verbindliche Sicherheitsdoktrin aufstellen. Das ist angesichts der bedrohlichen Lage in Osteuropa mindestens ebenso wichtig wie eine engagierte Klimapolitik. Es wäre Ursula von der Leyens Aufgabe, diesen Prozess voranzutreiben. Weil ihr Stellvertreter Josep Borrell sich zwar „Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik“ nennen darf, aber ein politischer Totalausfall ist, müsste die Kommissionspräsidentin die Zügel in die Hand nehmen. Sie tut es nicht.
Vielleicht hat sie anderes vor. US-Präsident Joe Biden möchte von der Leyen angeblich zur nächsten Nato-Generalsekretärin küren. Wie man hört, ist sie nicht abgeneigt. Der Wechsel hätte eine gewisse Logik: Immer dann, wenn die Probleme in ihren Ämtern überhandnehmen, zieht von der Leyen weiter und erklimmt die nächste Karrierestufe. So war es schon im deutschen Verteidigungsministerium, wo sie Skandale und Baustellen zurückließ. Mit dem zweifelhaften Vermächtnis dürfen sich dann ihre Nachfolger herumschlagen. Schön für Frau von der Leyen. Schlecht für alle Europäer.