Alexander Kissler

Doppelte grüne Standards: Strassenblockaden sind weder demokratisch noch legitim

10.02.2022
Lesedauer: 4 Minuten
Aktivisten protestieren im «Aufstand der letzten Generation» auf einer Berliner Autobahn gegen Lebensmittelverschwendung und für Klimaschutz. Hannibal Hanschke / Getty

Was im Mittelalter die Bussprediger waren, sind in der Gegenwart die radikalen Klimaschützer. Mit zwei entscheidenden Unterschieden freilich: Die vorwiegend jungen Menschen, die das baldige Ende der Welt im Klimakollaps prophezeien, belassen es nicht bei Predigt und Selbstgeisselung. Sie sehen sich ermächtigt, andere Menschen am Arbeiten und an der Fortbewegung zu hindern. Und anders als ihre Ahnen können sie sich politischen Beifalls sicher sein. Aus beidem erwächst ein Problem für die Demokratie.

In dieser Woche haben Aktivisten der Gruppe «Die letzte Generation» – schon der Name ist Apokalyptik – mehrfach Strassen blockiert, vor allem in Berlin, aber auch in Hamburg und Stuttgart. Sie fordern unter anderem ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung. Nicht allzu viele Menschen beteiligten sich an den Eingriffen in den Verkehr, aber die Folgen waren gewaltig. Lange Staus entstanden, selbst Feuerwehr- und Rettungswagen wurden behindert.

An diesem Donnerstag stand auch eine schwangere Frau, deren Wehen eingesetzt hatten, erzwungenermassen im Stau. Manche Autofahrer verloren die Geduld und zerrten die Störer von der Strasse, sofern diese sich nicht auf dem Asphalt festgeklebt hatten. Allein die Berliner Polizei leitete über 200 Ermittlungsverfahren ein, darunter rund 40 wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Panik und Paranoia

Die Aktivisten sprechen klar aus, dass sie das Recht bewusst brechen: «Eine Notlage rechtfertigt auch Gesetzesverstösse. Und wir sind in einer Notsituation.» Mit dieser Argumentation sind die Blockierer nicht allein. Auch Fridays for Future, die Endzeitsekte Extinction Rebellion und die in Teilen linksextreme Bewegung «Ende Gelände» sind von der Angst getrieben, dass ohne sofortige radikale Massnahmen die «Klimakatastrophe» und der «Ökozid» nicht aufzuhalten seien. «Wir sind am Arsch», heisst es bei Extinction Rebellion, deshalb laute die Devise: «Alles zerschlagen, aber liebevoll.»

Für das Ineinander aus Infantilität und Grössenwahn, Panik und Paranoia, wie es sich in Strassenblockaden ausdrückt, zeigt mit Steffi Lemke ein Mitglied der Bundesregierung Verständnis. Die Ministerin für Umwelt- und Verbraucherschutz erklärte unlängst auf dem Parteitag der Grünen, es sei «verdammt und dringend notwendig», sowohl gegen die Klimakrise als auch gegen das Artensterben «anzukämpfen». Nun nannte Lemke es «absolut legitim, für seine Anliegen zu demonstrieren und dabei auch Formen des zivilen Ungehorsams zu nutzen». Die Kleinpartei Bürgerallianz Deutschland hat Strafanzeige gegen die Ministerin erstattet wegen «öffentlicher Aufforderung zu Straftaten».

Auch die neue Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang tut sich schwer, die Gesetzesverstösse zu verurteilen. Sie begrüsste in einem Interview zivilen Ungehorsam als «legitimes Mittel des politischen Protests, wenn er eben friedlich vonstattengeht». Kurz darauf rang sie sich in der Talkshow «Markus Lanz» das Bekenntnis ab, nicht sinnvoll sei ein solches Vorgehen «in dem Moment, wo es Menschen gefährdet». Der Chef des Umweltbundesamtes, Dirk Messner, wiederum hat gegen Strassenblockaden «auf Basis der geltenden Gesetze» nichts einzuwenden.

Den rechtsstaatlichen Boden haben die apokalyptischen Blockierer jedoch verlassen. Bundesjustizminister Marco Buschmann musste seine Kabinettskollegin Lemke öffentlich daran erinnern, dass ziviler Ungehorsam im deutschen Recht «weder Rechtfertigungs- noch Entschuldigungsgrund ist». Straftat, heisst das, bleibt Straftat, ungeachtet der Motive.

Eine gefährliche Melange

Weite Teile der Grünen haben sich an doppelte Standards gewöhnt. Bei den Demonstrationen gegen die staatliche Corona-Politik war von grüner Seite nicht zu hören, Widerstand und Ungehorsam seien «absolut legitim». Auch hat Annalena Baerbock ihren Satz aus dem Wahlkampf, Protest sei «Teil einer starken Demokratie», bisher nicht auf die Montagsspaziergänge bezogen.

Die Klimaaktivisten sind Fleisch vom Fleisch der Grünen, einige neue Bundestagsabgeordnete verstehen sich als ihr parlamentarischer Arm. Dadurch entsteht eine gefährliche Melange. Wenn führende Politiker bis hinauf zur Bundesregierung den Eindruck vermitteln, es sei klimapolitisch fünf vor zwölf und Matthäi am Letzten, ermuntern sie zu immer radikaleren Aktionen auf den Strassen. Die Not, die angeblich kein Gebot kennt, wird planvoll herbeigeführt. Aus dem Applaus für Aktivisten erwachsen aktivistische Grenzüberschreitungen.

Es ist nicht friedlich, Strassen zu blockieren und Unfälle zu riskieren. Es ist nicht zivil, die Bewegungsfreiheit anderer Menschen aus Selbstermächtigung zu beschneiden. Es ist nicht demokratisch, sich über das Gesetz zu stellen. Bündnis 90 / Die Grünen waren einmal eine Bürgerrechtspartei. Hoffentlich bleiben sie eine Rechtsstaatspartei.

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