Immer mehr Triggerwarnungen und sogenannte safe spaces sollen die Psyche vermeintlich marginalisierter Gruppen an allen Orten schützen. Doch führt diese narzisstische Vermeidungsstrategie der Wokisten im Gegenteil zu einer noch ausgeprägteren Kränkbarkeit.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Woke. Psychologie eines Kulturkampfs“, das im Februar 2024 im Westend-Verlag erschienen ist.
Sowohl im woken Menschenbild als auch bei vielen der agierenden Protagonisten lässt sich die Vorstellung finden, dass Menschen aus den marginalisierten Gruppen eine besondere Schonung erfahren müssen, man mit ihnen besonders sensibel umgehen müsse. Diese Sensibilität solle insbesondere durch Sprachsensibilität und safe spaces umgesetzt werden.
Der Maßstab soll das Fühlen der Marginalisierten sein, wird jedoch von den lauten Aktivisten stellvertretend für ihre Gruppe oftmals in nicht repräsentativer Weise festgelegt. Gefühle könnten vielfach verletzt werden: Durch einen Winnetou-Film, durch nicht gegenderte Sprache und so weiter. Ein woker Twitter-User formulierte dies wie folgt: „Was mehrfach privilegierte Menschen nicht kapieren: ‚Offener Diskurs‘ ist für manche Menschen potenziell tödlich.“
Den Begriff Sensibilität kennt die Psychologie als solchen eher nicht. Was hier indes gemeint ist, ist eine erhöhte narzisstische Verwundbarkeit, Kränkbarkeit. Es geht um den Umgang mit narzisstischen Kränkungen.
Eine Arbeitskollegin fällt uns in einer Teambesprechung ins Wort. Von einer Arzthelferin werden wir in einer Praxis unhöflich zurechtgewiesen. Eine Bitte wird uns abgeschlagen. Einer geäußerten Meinung von uns wird widersprochen. Ein Freund von uns meldet sich seltener bei uns als wir uns bei ihm oder schreibt kurze und verzögerte Nachrichten. Unsere Bewerbung bleibt unbeantwortet. Diese oder ähnliche scheinbar banale, alltägliche Situationen kennen wir alle. Ihnen allen ist gemeinsam, dass wir in ihnen Kränkungen erleben. All diese Situationen berühren unser Selbstwertgefühl, unser narzisstisches Gleichgewicht.
Kinder brauchen entwicklungsfördernde Frustrationen
Dass wir im Leben immer wieder Kränkungen erleben, ist unumgänglich. Die meisten Menschen können mit den alltäglichen Kränkungen geringeren Ausmaßes recht gut umgehen, andere geraten durch sie in einen emotional aufgeladenen Zustand, in Form von ausgeprägter Wut oder Traurigkeit. Kränkungen beinhalten zwei Komponenten: die von außen kommende Kränkung (durch andere, durch unsere Umwelt) und unsere eigene Kränkbarkeit, unsere Verletzlichkeit und die entsprechende Kränkungsreaktion.
Kränkungen, die uns durch uns nahestehende Personen zugefügt werden, sind für uns belastender als Kränkungen durch Fremde. Wenn Kränkungen ein zu hohes Ausmaß annehmen, wenn sie dauerhaft oder wiederholt geschehen, sind sie schädlich für die menschliche Psyche.
Sie werden dann häufig immer und immer wieder innerlich durchgekaut, hallen lange nach und sind begleitet von Übererregung, von Wut, Racheimpulsen und erstarrter Verbitterung. In nahezu allen Konflikten, die Menschen miteinander austragen, geht es um gegenseitige Kränkungen. Insofern besteht in unserem gesellschaftlichen Kollektiv eine solche Übereinkunft, dass wir uns gegenseitig nicht zu sehr kränken sollten.
Gleichzeitig können wir kleinere oder auch mittlere Kränkungen im Leben aber nicht vermeiden. Bereits als Kind brauchen Menschen sogenannte entwicklungsfördernde Frustrationen, um zu reifen und zu gesunden Erwachsenen werden zu können. Diese Frustrationen, die beinhalten, dass ein Kind auch einmal ein „Nein“ in Wort und Tat erfährt, dass ein Kind Misserfolgserlebnisse hat, sind nichts anderes als Kränkungen und Einflüsse auf das narzisstische Erleben. Nur so kann sich ein gesunder Narzissmus, weg vom Primären, vollständig auf das Ich bezogenen Narzissmus entwickeln, der in der Lage ist, die Begrenzungen des eigenen Machtbereichs durch die Realität zu akzeptieren.
Vermeidungsverhalten führt zu noch mehr Kränkbarkeit
Wenn wir versuchen, nicht mehr verletzbar zu sein, indem wir das Außen, die Welt derart verändern möchten, dass uns nichts mehr kränken kann, ist dies nicht nur ein unmögliches Unterfangen, sondern führt durch Vermeidung und operantes Lernen zu einer noch ausgeprägteren Kränkbarkeit. Vermeidung an sich ist im gewissen Ausmaß wiederum menschlich und unproblematisch. Wir alle versuchen im gewissen Maß, Unangenehmes zu vermeiden. Auch hier ist wieder das Ausmaß entscheidend.
Wenn man ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten etabliert, kann man nicht lernen, mit Kränkungen angemessen umzugehen, nicht lernen, dass man sie aushalten kann, wenn man sie nicht er- beziehungsweise durchlebt. Stattdessen potenziert sich mit der Zeit bei dauerhafter Vermeidung die Angst vor Kränkungen noch weiter. Man wird noch vorsichtiger oder fordert von der Außenwelt noch mehr Rücksichtnahme.
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Auch resultiert eine Unfähigkeit, authentische Beziehungen mit gewisser Tiefe zu anderen Menschen zu leben. Es sind dann höchstens Beziehungen in einer dauerangestrengten Bemühung, den anderen nicht zu kränken; Beziehungen, die keinen Platz haben für die Unterschiedlichkeit von Menschen mit individuell unterschiedlichen Biografien.
Durch individuelle Lebenserfahrungen mit wunden Punkten kann es niemals eine vollständige perfekte Übereinstimmung ohne gegenseitige Kränkungen zwischen Menschen geben, sondern es prallen im gewissen Maße unterschiedliche Bedürfnisse und Gewohnheiten aufeinander, die automatisch zu diesen führen. Gesunde Beziehungen halten diese Kränkungen und Unterschiede aus. Wer durch übermäßige Rücksicht zu viel an Emotionsäußerung bei sich unterdrücken muss, staut sie auf und wird entweder krank oder entzieht sich irgendwann der Situation.
Erlebenskorridor verengt sich durch Vermeidungsverhalten
Charakteristisch für Vermeidungsverhalten ist, dass sich der eigene Erlebenskorridor und die innere Toleranz für das, was vermieden werden soll, immer weiter einengt. So können neutrale, harmlose Wörter einen kränkenden Charakter bekommen. Das geschieht sowohl auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene. Wir gewöhnen uns dann daran, dass beispielsweise bestimmte Wörter schlimm sein sollen. Wir internalisieren es. Hat man ein gewisses Maß an Wokeness bereits verinnerlicht, wird man, bereits bevor man „Mann und Frau“ ausspricht oder bevor man einer Frau „Schönheit“ zuschreibt, innehalten. Könnte dies vielleicht sexistisch sein? Wir werden immer sensibler für mögliche falsche Worte, für mögliche Kränkungen, die wir auslösen könnten.
Als Gegenstücke zur narzisstischen Verwundbarkeit werden manchmal Resilienz (Anpassungsfähigkeit) oder Widerstandsfähigkeit verstanden. Die psychologische Betrachtung von Resilienz fußte ursprünglich auf frühen Beobachtungen über manche Menschen und Menschengruppen, die sich trotz schwerwiegender Traumata oder Lebensumstände zu psychisch gesunden Personen entwickelten.
Beispielsweise forschte der Psychologe Elder über sowohl negative wie positive Auswirkungen von Armut auf die Entwicklung von Kindern und kam zu seiner Schlussfolgerung, dass sogenannte resiliente Kinder sich nicht als passiv begriffen, sondern als kompetente Akteure ihres eigenen Lebens. Insbesondere Mittelschichtskinder wurden, wie Elder meint, nicht trotz, sondern durch Armut zu gefestigten Persönlichkeiten.
In weiteren Studien wurde der Schluss gezogen, dass Resilienz in Teilen erlernbar ist. Warum manche Menschen durch schwierige Lebensbedingungen resilienter werden, andere hingegen psychische Schäden erleiden, ist Gegenstand weiterer Forschung. Die Vorstellung jedoch, der Mensch brauche eine weitestgehend ungestörte, nicht kränkende, schmerzfreie Umwelt, ist aus psychologischer Perspektive nicht haltbar.
„Massiv psychologisierte Kultur“ der Spätmoderne
Mit der steigenden selbstbezogenen Sorge und Selbstbeobachtung, die empirisch bei jüngeren Generationen gefunden werden kann, geht auch keinesfalls eine höhere Fähigkeit zur Empathie einher. Vielmehr konnte in mehreren Studien gezeigt werden, dass ältere Menschen im Vergleich zu jüngeren eine ausgeprägtere Bereitschaft zur Empathie und Gefühlskonkordanz aufwiesen.
Die „massiv psychologisierte Kultur“ der Spätmoderne ist nach dem Philosophen Andreas Reckwitz eng an eine „Wohlfühlsensitivität“ gekoppelt, bei der Sensibilität nur zugelassen wird, wenn sie mit positiven Emotionen verknüpft ist. Sie lässt nur Freude, Begeisterung und Wohlgefühl zu und ist nicht bereit, negative Abweichungen vom Erwarteten, Missempfindungen oder Mehrdeutigkeiten auszuhalten und zu akzeptieren. Eine verbreitete Hypersensibilität führe dazu, dass Menschen den eigenen Emotionen, die Worte oder Bilder in ihnen auslösen, nicht mehr gewachsen sind. Aus psychologischer Sicht ist dem beizupflichten.
Triggerwarnungen wirken wie selbsterfüllende Prophezeiungen
Immer mehr Triggerwarnungen oder neutraler formulierte Content Notes sollen die sensible Psyche an allen Orten schützen, auch an Universitäten. Diese Art der Einengung ist typisch für Wokeness. Zu Beginn gibt es sinn- und maßvolle Erneuerungen, wie die Überlegung und Umsetzung, bei gravierend verletzenden Inhalten, bei denen es um schwere Gewalt oder sexuellen Missbrauch geht, die Rezipienten vorab zu warnen.
Am Ende kündigen Triggerwarnungen jetzt nicht mehr nur potenziell retraumatisierende Inhalte, sondern auch solche an, die auf einige Menschen anstößig oder verstörend wirken könnten, als sei Letzteres per se eine problematische Wirkung. Auf Twitter sind inzwischen Triggerwarnungen mit Inhalten wie „Umzug“, „schwanger“, „Gewicht“, „Depression“, „Zyklus“, „Körperwahrnehmung“, „Gewichtsverlust“, „Essen“, „furchtbare Musik“ oder „Menstruation“ im woken Sinne üblich.
Dabei verfehlen die Triggerwarnungen häufig ihr Ziel und wirken durch Erwartungsangst eher wie sich selbsterfüllende Prophezeiungen. Es passiert also genau das, was vermieden werden sollte: Unangenehme Gefühle kommen auf. Studien deuten darauf hin, dass durch Triggerwarnungen ein Trauma möglicherweise als wichtiger Bestandteil der Identität wahrgenommen wird.
Das wäre erklärbar dadurch, dass das Trauma in der Bewusstheit immer präsenter wird und bleibt. Das Trauma gehört dann zur eigenen Persönlichkeit und deswegen hält man es unbewusst fest und wird es nicht mehr los. Triggerwarnungen an sich mögen dies nicht bewirken können, doch gerade die erhöhte woke Aufmerksamkeit auf die Problembereiche, lässt die eigene Opferperspektive ins Zentrum der eigenen Identität geraten.
Einrichtung von safe spaces ist eine woke Vermeidungsstrategie
Die Einrichtung von safe spaces an Hochschulen oder anderswo, in denen jeweils Marginalisierte unter sich bleiben sollen, ist eine weitere woke Vermeidungsstrategie mit ähnlichen Konsequenzen. Das Prinzip ist immer dasselbe: Die sensible Psyche bestimmter Opfergruppen muss vor jeglicher Kränkung, die zur vernichtenden Gefahr erklärt wird, geschützt werden.
Nicht nur der Versuch, das Außen zu verändern, sondern auch die Umdeutung oder Verleugnung von realen Gegebenheiten wird von Menschen genutzt, um Kränkungen zu vermeiden. Vom fundamentalen Attributionsfehler haben wir schon gehört. Wenn übergewichtige Körper als ebenso attraktiv gelten sollen wie typische „Modelkörper“ oder wenn abgestritten wird, dass es zwei biologische Geschlechter gibt, oder wenn psychische Störungen wie Pädophilie oder Objektophilie entpathologisiert werden sollen, dann wird versucht, Realitäten so passend zu machen, dass sie den eigenen inneren Wunsch nicht stören, sondern ihn bestätigen.
Menschen sind immer bemüht, ihr Selbstwertgefühl zu schützen und die Gegebenheiten in der Welt selbstwertdienlich zu interpretieren. Dazu setzen sie im gewissen Ausmaß psychische Abwehrmechanismen ein.
Verlust an psychischer Autonomie
Besonders gut gelingt dies, wenn die aktuelle gesellschaftliche Stimmung sie dabei unterstützt und wenn es ein Kollektiv gibt, das den Einzelnen psychisch derart entlastet, dass er glauben kann, so „normal“ zu sein wie alle anderen – auch dann, wenn ich mich mit meinem Geschlecht so unwohl fühle, dass ich es verändern möchte; dadurch, dass ich mich nicht mehr als übergewichtig sehen muss, sondern überall höre, dass es keine Objektivität gibt in dem, was die meisten Menschen attraktiv finden; dadurch, dass meine psychische Erkrankung, aufgrund derer ich mich gesellschaftlich ausgegrenzt fühle, nicht mehr als Störung gesehen wird, sondern als andere Variante des menschlichen Erlebens. Dann scheint die Kränkung endlich aufzuhören. Die psychische Entlastung ist nachfühlbar.
So normal und gesund eine gewisse Uminterpretation von Gegebenheiten sein kann, eine starke Abwehr von dem, was ist, hat immer seinen Preis. Auf individueller Ebene den, dass man langfristig das Kränkende, den Schmerz, den man in sich trägt, nicht durch Veränderung des Außen ausschalten können wird. Und dass man durch den überhütenden Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit an psychischer Autonomie und Resilienz noch weiter verliert, wodurch man wiederum nach noch mehr Schutz verlangen wird. Wenngleich man sich lediglich kurzfristig hat empowern können.
Auf gesellschaftlicher Ebene den, dass Objektivität mit Rücksicht auf Kränkung nicht mehr sein darf. Dass alle anderen Menschen sich dem fügen sollten, was einem selbst und der eigenen Gruppe psychische Entlastung schenkt. Doch ein Teil dieser Menschen wird hierauf immer ablehnend reagieren und die eigene Forderung wird am Ende genau zu dem beitragen, was man um jeden Preis vermeiden wollte: Kränkung durch überschießende Reaktionen von Intoleranz und Abwertung.