SPD-Absage

Die Corona-Aufarbeitung ist endgültig gescheitert – und das wird Folgen haben

13.10.2024
Lesedauer: 6 Minuten
Olaf Scholz und Angela Merkel im Bundestag, Ende 2020 Quelle: Michele Tantussi/Getty Images

Nun ist es offiziell: Eine parlamentarische Corona-Aufarbeitung findet nicht statt. Verhindert hat sie die SPD – aus Angst vor einem „Tribunal“. Doch das dürfte sich rächen. Denn die Pandemie-Politik ist die wichtigste Ursache der gegenwärtigen Vertrauenskrise der Demokratie.

Wie weit liegt die Corona-Zeit zurück? Zwei, drei oder gar noch mehr Jahre? So fern fühlt sich das alles inzwischen an! Tatsächlich sind die letzten „Corona-Schutzmaßnahmen“ – wie die Bundesregierung ihr Bündel politisch und wissenschaftlich hochumstrittener Freiheitseingriffe nannte – erst letztes Jahr ausgelaufen, am 7. April 2023.

Nach traumatisierenden Erlebnissen setzt rasch ein Prozess ein, den die Psychoanalyse als Verdrängung beschrieben hat. Er beruht auf der Illusion, man könne ungestraft so tun, als wäre nichts geschehen. Zur Erinnerung: Noch bis Februar 2023 musste jeder Reisende im ICE, der nicht riskieren wollte, dass ein unwirscher Bahnbeamter die Bundespolizei in den Zug ruft, sogar beim Trinken zwischen den einzelnen Schlucken eine medizinische FFP2-Maske tragen, durch die man allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz nur schlecht und dumpf atmen konnte. Das galt auch für Kinder ab sechs Jahren – und selbstverständlich auch für verspätete und überfüllte Züge mit ausgefallener Klimaanlage.

Trotz der Absurdität dieser Maßnahme – die sich auch darin erweist, dass sich seit ihrem Wegfall nur wenige Menschen freiwillig so verhalten – war die Maskenpflicht im Zug ein vergleichsweise harmloses, eher symbolisches Relikt jener Welt aus Zwängen und Verboten, die die Corona-Politik den Bürgern drei Jahre lang auferlegt hatte: Erstklässler, die monatelang keinen Klassenraum betreten durften; Jugendliche, deren Geburtstagsfeiern im Park von Polizisten in Kampfmontur gesprengt wurden; Schwimmbäder, zu denen „ungeimpfte“ Eltern und ihre Kinder keinen Zutritt bekamen; Krankenhäuser, in denen Tausende einsam sterben mussten, ohne von den engsten Verwandten Abschied nehmen zu können – und all das flankiert von Demonstrationsverboten und Verfassungsschutzaktionen gegen Kritiker dieser politischen Entscheidungen.

Nicht nur in Deutschland hat die Corona-Politik das Vertrauen in die liberale Demokratie tief und nachhaltig erschüttert. Das zeigt sich auch an den Wahlerfolgen jener Parteien, die sich gegen die Corona-Restriktionspolitik positionierten, von Italien bis Österreich, von der Europawahl bis zur Thüringer Landtagswahl. Es wird gerade allenthalben davor gewarnt, dass die AfD eine autoritäre Wende der Politik anstrebe. Dabei scheinen jene, die so warnen, oft ganz vergessen zu haben, wie autoritär die deutsche Corona-Politik, jahrelang und flächendeckend, an den Parlamenten vorbei durchregierte – und wie ungern und zögerlich die Regierenden die scharfen Instrumente der Notstandspolitik wieder abgaben. Vom Bundeskanzleramt bis zu den Ministerpräsidenten, vom Landrat bis zum Polizeichef war die Linie klar: Die Einschränkung von elementaren Grundrechten, rhetorisch als „Vorsicht“ und „Umsicht“ verharmlost, ist alternativlos – und wer sich ihr entgegenstellt, ist ein „Querdenker“ und muss im Zweifel als Feind bekämpft werden.

Doch man kann in einer liberalen Demokratie nicht einfach die Pausetaste drücken, ohne ihre innere Mechanik zu verletzen. So wie sich die deutsche Wirtschaft nie wirklich von den Lockdowns erholen konnte, so wie der Staatshaushalt die als Kompensation aus dem Nichts gestampften Milliardenpakete bis heute nicht verkraftet hat, so wie eine Generation von Jugendlichen immer noch an Depressionen und Bildungsnachteilen leidet – so blieb auch der Rechtsstaat beschädigt zurück. Die Ausübung der Grundrechte hat ihre Selbstverständlichkeit verloren: Seit Corona sind Freiheitseinschränkungen im Zweifel immer dann erlaubt, wenn sie nur dem richtigen Ziel dienen, etwa dem Kampf gegen „Desinformation“.

Doch diese Logik, an die sich nicht nur Politiker aller Fraktionen, sondern erschreckenderweise auch die Medien gewöhnt haben, widerspricht dem Geist des Grundgesetzes. Und sie hat einen autoritären Kern, denn sie gibt dem, der gerade die jeweiligen politischen Ziele definiert, eine Blankovollmacht.

Vom Staat entfremdete Bürger

Wer die liberale Demokratie retten will, der darf sie also nicht nur gegen äußere und innere Feinde verteidigen, wie man sie allenthalben mit Putin und der AfD identifiziert. Viel entscheidender wäre es, den gefährlichen Selbstwiderspruch zu erkennen, in den unser politisches System seit Corona gerutscht ist und der viele Bürger vom Staat entfremdet hat: Immer öfter wirft die demokratische Politik bei der Verfolgung tatsächlich oder vermeintlich guter Absichten ihre ureigensten Prinzipien über Bord – und gleicht sich dadurch jenen modernen Autokratien an, von denen sie sich doch so gerne abgrenzt.

Diese Fehlentwicklung, die sich in der Corona-Krise als autoritärer Exzess manifestierte, kann nur in der Herzkammer der Demokratie aufgearbeitet werden: dem Deutschen Bundestag. Das aber hat nun ausgerechnet die SPD, die in der gesamten Corona-Zeit Regierungsverantwortung trug, verhindert. „Es wird keine zusätzliche Aufarbeitung der Corona-Pandemie in dieser Legislaturperiode gebe“, teilte Katja Mast, die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, jetzt mit – als habe bereits irgendeine Form der Aufarbeitung stattgefunden.

Woran ist das gemeinsame Projekt der Ampel-Koalition gescheitert? Vor allem daran, dass die SPD befürchtete, eine Enquete-Kommission oder gar ein Untersuchungsausschuss im Parlament könne zum „Tribunal gegen einzelne Minister“ werden. Die Partei wollte also den zuständigen SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach davor schützen, sein oft eigenmächtiges Handeln in der Pandemie vor den Abgeordneten rechtfertigen zu müssen. Auch für Olaf Scholz (SPD), der in der Pandemie zunächst als Vizekanzler und später als Bundeskanzler Verantwortung trug, käme eine parlamentarische Aufarbeitung im Bundestagswahlkampf wohl eher ungelegen.

Als Ersatz für ein parlamentarisches Gremium, das die FDP völlig zu Recht vehement einforderte, schlug die SPD allen Ernstes einen „Bürgerrat“ zur Aufarbeitung vor – als könne eine zusammengeloste Schar von Laien dafür geradestehen, fundamentale Fehler im Regierungshandeln aufzuklären. Dass Katja Mast betrübt behauptet, leider seien „unsere Bemühungen an der FDP gescheitert, die diesen Weg nicht mitgehen wollte“, ist vor diesem Hintergrund ein schlechter Witz. Es handelt sich bei der Corona-Aufarbeitung schließlich nicht um einen Stuhlkreis, bei dem Betroffene ihre leidvollen Erfahrungen ausdiskutieren sollen, sondern um eine Pflicht der politisch Verantwortlichen.

Wie das Gegenteil von Aufarbeitung aussieht, hat der Virologe Christian Drosten, wichtigster Berater der deutschen Lockdown-Politik, gerade eindrucksvoll demonstriert: „Wir wissen, was wir getan haben“, erklärte Drosten bei einem Fachvortrag, „das ist auch jetzt im Nachhinein noch richtig, und das wird beim nächsten Mal natürlich auch wieder notwendig sein!“

Es wäre eine dringliche Aufgabe der Bundesregierung, den Bürgern das Vertrauen zu vermitteln, dass genau solch eine blinde Wiederholung auf keinen Fall stattfindet. Die Gelegenheit dazu hat sie nun versäumt.

Sigmund Freud schrieb 1915 in seinem Aufsatz „Die Verdrängung“, dass ein verdrängter Konflikt nicht verschwindet, sondern dass er sich „ungestörter und reichhaltiger entwickelt“: Er „wuchert dann sozusagen im Dunkeln und findet extreme Ausdrucksformen“. In der langen Reihe von Fehlern der Ampel-Koalition könnte die offizielle Absage der Corona-Aufarbeitung der fatalste sein.

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