Politik und Medien haben in der Pandemie viele Fehler gemacht. Den Bürgern wurden mehr Freiheiten genommen als zwingend erforderlich. Ungeimpfte wurden stigmatisiert. Heute weigern sich Politik und Medien, die Irrtümer aufzuarbeiten.
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Der frühere deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn ist mit einem Satz in die Annalen der Pandemie eingegangen: «Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.» Was als Plädoyer für eine selbstkritische Reflexion gedacht war, verstehen Politik und Medien in Deutschland ganz anders: als Amnestie für die gemachten Fehler und als Aufruf zur Amnesie. Drei Jahre nach Beginn der Seuche ist die Bereitschaft begrenzt, aus Irrtümern zu lernen.
Wieder ist Winter, wieder steigen die Covid-Fallzahlen, doch die vom heutigen Gesundheitsminister Karl Lauterbach prophezeite «Killervariante» lässt sich nicht blicken. Diese zur Hysterie neigende Kommunikation ist der Kardinalfehler der deutschen Pandemiepolitik.
Die Kommunikation war auch ein Resultat der seltsamen Art, wie Politik gemacht wurde – mit Videokonferenzen zwischen Kanzlerin und Ministerpräsidenten. Die Teilnehmer gaben ihre Statements an die Medien weiter, so dass sich die Verhandlungen praktisch live verfolgen liessen. Das förderte Schaufensterreden und Maximalforderungen.
Abwägende Stimmen hatten es nicht leicht, Gehör zu finden. Die bis weit in die Nacht andauernden Runden sorgten überdies für administrativen Wirrwarr. Der von Angela Merkel und ihrem Kanzleramtsminister Helge Braun ausgeheckte und rasch wieder verworfene Oster-Lockdown ist das beste Beispiel für die Mischung aus Chaos und Inkompetenz.
Die langen Schulschliessungen bleiben eine Schande
Dass Bund und Länder nicht in der Lage waren, in der zwei Jahre dauernden heissen Phase der Seuchenbekämpfung ein rationales Entscheidungsverfahren zu etablieren, ist ein Armutszeugnis der deutschen Politik. Selbstdarstellung triumphierte über Sachkenntnis.
Den Preis dafür zahlten die Menschen – vor allem Kinder und Jugendliche. Bis Mitte 2021 waren die Schulen an 126 Tagen geschlossen. Berücksichtigt man auch den Wechselunterricht, waren es über 320 Tage. Das ist, man kann es nicht anders sagen, eine Schande. Die Bedürfnisse junger Menschen waren unwichtig; eine plausible Risikoabschätzung fand nicht statt.
Die Härte war zudem nutzlos. Obwohl die Schweiz nach der Anfangsphase von Corona auf Lockdowns oder Schulschliessungen verzichtete und zu Merkels Verdruss Skigebiete und Gastronomie offenhielt, verzeichnet sie keine höhere Sterblichkeit als Deutschland.
Immerhin raffte sich Lauterbach zu dem verdrucksten Eingeständnis auf, rückblickend seien die Kita-Schliessungen nicht nötig gewesen. Doch mit dem Wörtchen «rückblickend» erteilt er sich und allen Verfechtern der harten Linie Absolution. Der Minister suggeriert, der damalige Kenntnisstand habe keine andere Entscheidung zugelassen. Das ist nachweislich falsch.
Wie das Beispiel Schweiz zeigt, konnte man schon früh zu ganz anderen Schlussfolgerungen gelangen. In Deutschland wollten dies Bund und Länder aber nicht. Sie sollten daher wenigstens Rechenschaft ablegen, was sie daraus gelernt haben. Fehler sind in einer Extremsituation unvermeidlich; die sture Weigerung, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, legt jedoch die Grundlage für das nächste Versagen.
Die Politik befindet sich in schlechter Gesellschaft der Medien. Wie in der Migrationskrise 2015 neigten sie dazu, unkritisch der Regierungslinie zu folgen. Gerade die öffentlichrechtlichen Sender verbreiteten Horrorszenarien und bettelten in Kommentaren förmlich um rigorose Massnahmen. Wissenschafter und Politiker, die für eine weniger restriktive Vorgehensweise eintraten, mussten Hohn und Spott ertragen.
Die Medien verbreiteten unkritisch als objektive Wissenschaft verbrämte Mutmassungen: darunter die Behauptung, Geimpfte seien nicht ansteckend. Dies alles geschah unter der Parole «Follow the science». Selten war Wissenschaftsgläubigkeit naiver und zugleich militanter. Mit angeblicher Wissenschaft wurde schamlos Politik gemacht. Dies müsste eine Warnung für den Umgang mit dem Klimawandel sein, doch auch diese Lehre werden die Medien vermutlich ignorieren.
Die damals bereits vorliegenden Fakten wurden nicht unvoreingenommen geprüft, sondern man machte sich zum Gehilfen der offiziellen Linie, die Ungeimpfte stigmatisierte. Statt als Korrektiv zu funktionieren, agierte ein grosser Teil der Medien als Lautsprecher der Exekutive.
Die Medien können sich nicht beklagen, wenn man ihnen heute «Impf-Lügen» vorwirft
Fiebrige Anfälle von Corona-Hofberichterstattung waren auch bei Schweizer Medien zu beobachten. Die deutschen Kollegen hatten indes einschlägige Erfahrungen gesammelt, nachdem sie wenige Jahre zuvor die Willkommenskultur verklärt und damit ein Fiasko erlebt hatten: schon damals Konformismus statt Kritikfähigkeit. Gelernt haben sie daraus nichts. Die Medien dürfen sich nicht wundern, wenn man ihnen heute «Impf-Lügen» vorwirft.
Zur hysterischen Kommunikation gehörte, dass mit unrealistischen Maximalforderungen Emotionen geschürt wurden. Alle Angehörigen vulnerabler Gruppen – vornehmlich Alte und Personen mit einer gravierenden Vorerkrankung – sollten geschützt werden. Das gipfelte in dem Satz, jedes Leben sei gleich viel wert und müsse unbedingt bewahrt werden.
Würde dies zutreffen, wäre jetzt der nächste Lockdown unvermeidlich. Gegenwärtig grassiert das RS-Virus, die Kinderstationen vieler Krankenhäuser sind überlastet. Besonders anfällig sind Säuglinge und Kleinkinder, es kommt zu Todesfällen. Wenn die Behauptung Bestand hätte, wonach jedes Leben in den vulnerablen Gruppen zwingend geschützt werden muss, wären Freiheitsbeschränkungen abermals unumgänglich.
Natürlich verhängt die Politik keinen Lockdown. Jede vernünftige Güterabwägung spricht dagegen, auch nur die Kitas zu schliessen. Dass man sich während Corona weigerte, die Risiken genauso rational zu bewerten, zeigt jedoch, wie egoistisch eine alternde Gesellschaft ihre Prioritäten setzt. Alte Menschen geniessen einen erheblich höheren Stellenwert als junge. Grundlage für eine zukunftsfähige Politik ist das nicht.
Die Beschlüsse waren zu wenig evidenzbasiert, sondern von den Stimmungen und Ängsten der Handelnden – also vor allem von Merkel und Braun – getrieben. Zusammen mit dilettantischen Entscheidungsverfahren führte dies dazu, dass deutsche Politiker nicht nur im Fall des Oster-Lockdowns im Panikmodus agierten.
Zu den überlebenswichtigen Schutzmechanismen des menschlichen Gehirns zählt, dass es vergisst und verdrängt. So haben die Deutschen bereits vergessen, welcher bürokratische Irrsinn ihnen bisweilen zugemutet wurde.
Wer erinnert sich noch an die Regel, wonach es in Landkreisen mit hoher Inzidenz verboten war, sich mehr als 15 Kilometer von seiner Wohnung zu entfernen? Wer erinnert sich daran, dass vor wenigen Monaten Sozialdemokraten und Grüne eine allgemeine Impfpflicht erzwingen wollten?
Man muss sich bloss ausmalen, was geschehen wäre, wenn die beiden Regierungsparteien den Impfzwang durchgesetzt hätten. Die Gesellschaft wäre tief gespalten worden; die Behörden hätten in Windeseile einen teuren Überwachungsapparat aus dem Boden stampfen müssen; zahllose Impfverweigerer wären kriminalisiert worden. Die Demokratie hätte Schaden genommen.
Und für was das alles? Auch ohne Impfobligatorium kommt Deutschland gut durch Herbst und Winter.
Zu Recht wird beklagt, dass Querdenker eine extreme und mitunter extremistische Form der Realitätsverweigerung praktizieren. Aber alle Politiker bis hin zum Kanzler, die einen Impfzwang forderten, vertraten eine nicht minder extreme Position. Der Extremismus der Mitte ist gefährlicher als der Extremismus der Ränder, weil nur die Mitte die Macht hat, ihre Stimmungen in Gesetze zu giessen. Das sollten die Deutschen nicht vergessen.
Der Bürger wird zum Almosenempfänger degradiert
Auch ohne Impfpflicht gehörten die deutschen Corona-Regeln zu den strengsten in Europa. Gleichzeitig waren die deutschen Covid-Hilfen die grosszügigsten. Der Staat kann den Deutschen offensichtlich die Freiheit nehmen, solange er sie grosszügig alimentiert.
In diesem Staatsverständnis liegt auch das eigentliche, über die Pandemiepolitik hinausweisende Problem. Der Staat usurpiert die Daseinsvorsorge, die eigentlich die Aufgabe jedes dazu fähigen Bürgers wäre. Selbstverantwortung und Freiheit stehen nicht hoch im Kurs. Die fürsorgliche Bevormundung der Bürger durch den Staat kann nicht nur in Corona-Zeiten mit grosser Zustimmung rechnen.
Diese Denkweise prägt auch die Sprache der Politik. Die Hilfe für Personen, die ihren eigenen Lebensunterhalt nicht bestreiten können, wird als «Bürgergeld» deklariert. Sie ist damit nicht eine auf Notlagen beschränkte Ausnahme, sondern eine Art Normalfall, der den Bürger wie selbstverständlich zum Bittsteller und Almosenempfänger degradiert.
Das Wort Bürgergeld wird so geradezu zur Definition des Verhältnisses zwischen Staat und Individuum: Das Wesen des Bürgers ist es, sich aushalten zu lassen.
Kein Wunder also, dass auch in der Energiekrise Unternehmen und Private umfangreiche Unterstützung erhalten. Die Hilfspakete gehören wieder zu den grössten weltweit. Viel gelernt hat die Politik aus Corona also nicht, nur dass diesmal mit den Zuwendungen keine Freiheitsbeschränkungen verbunden sind. Der Ungeist aber ist derselbe. Auf Dauer wird die Demokratie so pervertiert. Sie verkommt zum Basar, auf dem Bürger und Staat Gefolgschaft gegen Geld tauschen.