Im Herbst könnten die deutschen Rechtspopulisten gleich bei drei Wahlen im Osten stärkste Kraft werden. Das ist keine Überraschung.
Von allen Wegen, mit dem Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei umzugehen, hat sich in Deutschland der schlechteste Weg durchgesetzt. Medien und Vertreter aller etablierten Parteien stellen die AfD nicht als politische Partei dar, die man aus verschiedenen guten Gründen ablehnen kann, vom engen Draht nach Moskau bis zum völkischen Geschwätz eines Björn Höcke. Die Partei wird zur Gefahr für die Demokratie an sich erklärt, und ihre Vertreter und Mitglieder werden nicht wie Kontrahenten, sondern wie Feinde behandelt und etikettiert: als Antidemokraten, Faschisten, Nazis. Im Falle eines Wahlsiegs drohe die Rückkehr in dunkelste Zeiten, liest und hört man. Wahlsieg? Nein: Machtergreifung!
Der Soziologe Stanley Cohen hat für dieses Phänomen den Begriff der «moralischen Panik» geprägt. Er beschreibt, wie die veröffentlichte Meinung eine Gruppe als Gefahr markiert und dann zusehends marginalisiert und verteufelt. In Deutschland geschieht das Ganze mit der landestypischen Gründlichkeit. Die Berliner Polizei wollte unlängst sogar wissen, ob ein aufblasbarer Schneemann vor einer Geschäftsstelle der AfD den Hitlergruss zeigte. Er tat es nicht.
Die vielen Deutschen (und einige Schweizer), die Vertreter der AfD und mitunter auch deren Wähler als Nazis bezeichnen, halten sich selbst für wachsam. «Wehret den Anfängen», lautet eine Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus. «Nie wieder», lautet eine zweite. Doch das Bild der ausgeschlafenen Demokraten hat Risse.
Die Gleichsetzung von NSDAP und AfD ist kein Ausdruck von Wachheit, sondern ein Beleg dafür, dass jemand im Geschichtsunterricht geschlafen hat. Es macht einen Unterschied, ob eine Partei die Verbrechen des Nationalsozialismus zum «Vogelschiss» der deutschen Geschichte erklärt oder ob sie diese Verbrechen begangen hat. Die Verwendung antisemitisch konnotierter Begriffe wie «Globalist» ist nicht das Gleiche wie der Versuch, Europas Juden auszulöschen. Und Warnungen vor einer vermeintlich drohenden «Überfremdung» des eigenen Landes sind etwas anderes als ein verbrecherischer Eroberungskrieg im Namen eines «Volkes ohne Raum».
Auf diese Unterschiede hinzuweisen, ist keine Verharmlosung der AfD, sondern eine Reaktion auf die Bagatellisierung des Holocaust. Die Partei ist aggressiv und illiberal. Aber sie ist keine «Nazi-Partei».
Deutsche Juden – also jene Minderheit, die die echten Nazis so sehr vernichten wollten wie keine zweite – müssen heute tatsächlich wieder Angst haben, im öffentlichen Raum als Juden erkannt zu werden, vor allem in westdeutschen Grossstädten. Dafür ist aber nicht die AfD verantwortlich, sondern vor allem die Masseneinwanderung aus Ländern, in denen Antisemitismus zum guten Ton gehört. Gegen diese sehr reale und sehr aktuelle Gefahr demonstriert niemand. Vermutlich, weil es für viele mit einem schmerzhaften Eingeständnis verbunden wäre: Nicht die Rechten, sondern die Anhänger der Willkommenskultur haben das «Nie wieder» des Landes unbeabsichtigt ins Wanken gebracht.
Die moralische Panik schadet der Demokratie
Die Panik im Umgang mit der AfD dient nicht dem Schutz der demokratischen Kultur. Sie schadet ihr. Diskussionen über die Partei sind heute meist Grabenkämpfe ohne Grautöne. Wer die AfD ablehnt, aber auch die Nazi-Vergleiche masslos findet, wird schnell zum heimlichen Sympathisanten erklärt. Währenddessen bunkern sich die echten Sympathisanten ein und weisen jede Kritik als links-grüne Propaganda zurück.
Freunde und Kollegen, die sich früher zivilisiert streiten konnten, sprechen entweder nicht mehr über Politik oder nicht mehr miteinander. Die Gesellschaft driftet auseinander. Und die Einzige, die von dieser Entwicklung profitiert, ist die AfD.
Die Partei mag in den Umfragen jüngst ein paar Prozentpunkte an das neue linksnationale Bündnis Sahra Wagenknecht verloren haben. Doch sie liegt bundesweit nach wie vor auf Platz zwei, hinter der oppositionellen Union und vor den Regierungsparteien SPD, FDP und Grüne. Und im Osten, wo im Herbst drei neue Landtage gewählt werden, ist sie die unangefochtene Nummer eins. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft kann an der Hoffnung festhalten, dass noch mehr Ausgrenzung diesen Trend brechen wird. Aber das ist magisches Denken.
Beispiel Sachsen: Um die AfD auch nach der Wahl im September von der Macht fernzuhalten, wird das bisherige, bereits schwer disparate Bündnis aus CDU, SPD und Grünen voraussichtlich noch einen weiteren Partner benötigen. Nach heutigem Stand kämen nur das Bündnis Sahra Wagenknecht oder die Linkspartei infrage. Man dürfte gespannt sein, wie die bürgerlichen Christlichdemokraten ihren Wählern eine Zusammenarbeit mit sozialistischen Nato-Gegnern schmackhaft machen würden.
Der erste Schritt weg von der Panik und hin zur Vernunft liegt in der Erkenntnis, dass die Rolle des Aussenseiters für die AfD keine Strafe, sondern ein Geschenk ist. Je grösser die Zahl der Parteien, die sich zusammenschliessen müssen, um noch eine Regierung «gegen die AfD» zu bilden, desto leichter kann diese ihre Wettbewerber als «Kartell» anprangern und sich selbst als Underdog in Szene setzen.
Verbannt an den Spielfeldrand
Die AfD musste noch nie den Beweis antreten, dass sie eines der von ihr angeprangerten Probleme lösen kann. Sie ist an den Spielfeldrand verbannt und darf dort erklären, was alle anderen angeblich falsch machen. Diese Rolle dürfte ihr in Zukunft noch leichter fallen als heute schon. Denn die anstehenden Reformen des Landes, allen voran in der Klima- und Energiepolitik, versprechen keine «quick wins», sondern steigende Kosten für die Bürger. Dazu kommen Grossbaustellen wie die drohende Deindustrialisierung, die ausgezehrte Bundeswehr oder – als Lebensversicherung der AfD – die kaum regulierte Massenmigration.
Keine deutsche Regierung, nicht im Bund und nicht in den sechzehn Bundesländern, wird es auf absehbare Zeit leicht haben. Nur die Aussenseiterpartei kann sich entspannen und den Frust bewirtschaften. Es sei denn, das Land lässt auf die erste Erkenntnis auch die zweite folgen: Die Ausgrenzung hat die AfD gross gemacht – wer sie wieder kleinkriegen will, muss sie mitregieren lassen. Je früher, desto besser: bevor die Partei noch mehr Zuspruch erhält.
Entweder entzaubern sich die Rechtspopulisten als Teil einer Koalition und schrumpfen auf diese Weise. Oder sie entradikalisieren sich mit der Zeit. Beides wäre ein Gewinn.
In Sachsen gibt es, als Beispiel, seit 2019 ein Ministerium für Regionalentwicklung. Es ist das erste Ressort dieser Art in Deutschland und für eine sehr breite Themenpalette zuständig. Die Verwaltung gehört dazu, die Entwicklung des ländlichen Raums und auch der Wohnungsbau. Ein AfD-Politiker, der heute den halben Tag damit zubringt, über die «Altparteien» herzuziehen, könnte sich an der Spitze eines solchen Ministeriums nicht mehr hinter dem donnernden Begriff der «Volksopposition» verstecken. Er müsste sich im Dienst am Volk bewähren. Applaus gäbe es nicht mehr für Agitation, sondern nur noch für politisches Handwerk.
Wer das Personal der AfD nur ein bisschen kennt, weiss, dass ein solcher Rollenwechsel die Partei vor gewaltige Probleme stellen würde. Der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland hat sie mal als «gärigen Haufen» bezeichnet. Das ist die AfD heute noch.
Von den Nordeuropäern lernen
Der Blick ins europäische Ausland zeigt, dass Demokratien nicht nur die Existenz, sondern auch die Regierungsbeteiligungen rechtspopulistischer Parteien überleben. Er bestätigt auch den Effekt von deren Ausgrenzung: Parteien, die sich als Antithese zum Establishment inszenieren, haben es dann leicht, wenn sie ausgeschlossen werden. Die Schwedendemokraten sind ein gutes Beispiel. Bis zur jüngsten Parlamentswahl waren sie aussen vor. Und bei der Wahl wurden sie die grossen Gewinner.
Wie sich hingegen eine Beteiligung an der Regierung auswirken kann, zeigt das Schicksal der Wahren Finnen. Diese wurden 2015 Teil einer Mitte-rechts-Regierung, und nur zwei Jahre später zerlegte es sie.
Die etablierten Parteien vor allem des bürgerlich-liberalen Spektrums haben unterdessen die Gelegenheit, ihre Programme zu korrigieren und den Herausforderern ihre Alleinstellungsmerkmale zu nehmen – nicht um die Populisten nachzuahmen, sondern um den Wählerwillen ernst zu nehmen. So lief es in Dänemark, wo die Dänische Volkspartei nach einem jahrelangen Aufstieg 2019 bei der Wahl plötzlich einbrach. Die Konkurrenz, Sozialdemokraten eingeschlossen, hatte ihre Migrationspolitik zuvor deutlich verschärft. Die Dänische Volkspartei ist heute eine Kleinpartei ohne Einfluss.
Dieses Schicksal wird die AfD wohl erst einmal nicht ereilen. Denn viele Deutsche sind überzeugt, dass nur die Dämonisierung dieser Partei und ihrer Positionen die Demokratie retten kann. Manche sind, wie gesagt, sogar überzeugt, mit knapp achtzig Jahren Verspätung gegen Nazis zu kämpfen. Ein Grund dafür könnte ein Wesenszug sein, von dem schon im «Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944» die Rede war. Dieses «merkwürdige Volk», heisst es da von den Deutschen, habe einen «streak of hysteria», einen Hang zur Hysterie.
Das klingt herablassend, aber es lässt Raum für Hoffnung. Hysterie ist ein Krankheitsbild. Ein Hang zur Hysterie ist eine Eigenschaft, die man ablegen kann.