Holger Hanselka, KIT-Präsident und Vizepräsident der Helmholtz-Gemeinschaft für den Forschungsbereich Energie, spricht über die Energiekrise und den künftigen Nutzen der Atomenergie.
Warum kann Deutschland mit erneuerbaren Energien nicht energieautark werden, auch wenn Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) jetzt das Ziel vorgegeben hat, den Energiebedarf in Deutschland bis zum Jahr 2030 zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien zu decken?
Laut Osterpaket des Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz sollen bis 2030 mindestens 80 Prozent des deutschen Bruttostromverbrauchs aus Erneuerbaren Energien bezogen werden. Elektrischer Strom deckt allerdings nur etwa 20 Prozent des deutschen Energiebedarfs ab, der Rest wird durch Brenn- und Kraftstoffe bestritten. Deutschland wird also immer Energieimportland bleiben, weil Deutschland nicht ausreichend Flächen für Wind- und Photovoltaik-Anlagen ausweisen kann und weil die klimatischen Verhältnisse, also jährliche Sonnen- und Windstunden, keine sehr hohe Ausbeute an Erneuerbaren Energien zulassen. So werden wir beispielsweise über erneuerbare Quellen hergestellten Wasserstoff aus Ländern mit großen Freiflächen und günstigen Erzeugungsbedingungen importieren müssen, also beispielsweise aus Australien oder dem nördlichen Afrika.
Lässt sich überhaupt ein Design für die künftige Energiepolitik finden, das von geopolitischen Einflüssen unabhängig ist?
Mittelfristig auf einem Horizont von fünf Jahren sehe ich das nicht. Langfristig, also ab etwa 2050, stellt die international vorangetriebene Kernfusion, immer in Kombination mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien, eine Option und realistisches Zukunftsszenario dar, so dass weltweit und damit auch bei uns große Mengen an Strom und Prozesswärme ohne wesentliche Ressourcenabhängigkeit erzeugt werden können. Damit könnten wir dann auch die Wärme-, Mobilitäts- und Industriebedarfe decken und über Elektrolyseure grünen Wasserstoff als Grundstoff für die Industrie herstellen.
Die Politik kann entscheiden, ob sie die drei noch am Netz befindliche Atomkraftwerke weiter betreiben will. Was wäre der Vorteil in der gegenwärtigen Situation?
Dazu muss man wissen: Die drei in Deutschland noch laufenden Kernkraftwerke haben im letzten Jahr etwa 33 Terawattstunden Strom erzeugt. Im gleichen Zeitraum wurden aus Erdgas etwa 90 Terawattstunden und aus Steinkohle 54 Terawattstunden Strom produziert. Dabei wurden aus russischem Erdgas rund 50 Terawattstunden Strom erzeugt, was dem 1,5-fachen der Jahresstromerzeugung der drei Kernkraftwerke Emsland, Isar II und Neckarwestheim II entspricht. Aus russischer Steinkohle wurden rund 27 Terawattstunden Strom erzeugt, was 82 Prozent der in den drei deutschen Kernkraftwerken erzeugten Jahresstrommenge entspricht. Insofern wäre der weitere Betrieb der drei noch am Netz befindlichen Kernkraftwerke zwar ein Beitrag, aber bei weitem keine Lösung.
Für was könnte dieser Strom in der jetzigen Situation verwendet werden?
Mit dieser Strommenge könnten wir einen Teil des aus russischem Gas oder russischer Kohle produzierten Stroms kompensieren, aber wie gesagt nur einen Teil. Grundsätzlich ist Strom in einem intelligenten, sektorgekoppelten Energiesystem sehr flexibel einsetzbar.
Durch die Energiekrise, die durch den Ukraine-Krieg verursacht worden ist, fehlt der Industrie vor allem Gas und Öl für Produktionsprozesse. Wie können wir dieses Defizit kompensieren?
Erdöl kann auf dem Weltmarkt aus anderen Ländern, wahrscheinlich zu höheren Preisen, zugekauft und per Schiff antransportiert werden. Um Flüssig-Erdgas zu beziehen, ist es erforderlich, entsprechende Infrastrukturen sehr schnell zu errichten. Wir brauchen sogenannte schwimmende LNG-Terminals, aber auch LNG-Terminals in Deutschland. Gleichzeitig müssen wir die Transportkapazitäten für Gas im Europäischen Fernleitungsnetz ausbauen, um die in anderen EU-Staaten vorhandene LNG-Terminals an das deutsche Gasnetz anzubinden. Langfristig können wir Erdgas durch grüne Gase substituieren. Dies sind Wasserstoff, Bio-Methan und Synthetisches Erdgas aus Erneuerbaren Energien.
Atomkraftwerke liefern keine Wärmeenergie für Produktionsprozesse, könnten sie denn helfen, den steigenden Strombedarf durch den Zuwachs der Elektromobilität zu decken?
Ersetzt man theoretisch alle 48 Millionen PKW in Deutschland durch Elektroautos, so würde das eine zusätzliche Strommenge in Höhe von 140 Terawattstunden pro Jahr erfordern. Das entspräche etwa einem Viertel des gegenwärtigen Strommarktes, der dann im Laufe der nächsten 20 Jahre über Erneuerbare Energien erweitert werden muss. Die drei heute in Deutschland laufenden Kernkraftwerke könnten dazu mit 33 Terawattstunden Strom pro Jahr einen kleinen Teil beitragen. Im Gegenzug würden aber etwa 600 Terawattstunden an fossilen Kraftstoffen im Fahrzeugbereich eingespart. Insofern stellt die Elektrifizierung eine der umfassendsten und wirkungsvollsten Maßnahmen zur Energieeinsparung dar – es gilt also, das Thema Ladeinfrastruktur in diesen Dimensionen rechtzeitig anzugehen. Nicht ausblenden darf man bei dem Thema Elektromobilität den Bedarf an edlen und seltenen Materialien, die alle nicht in Deutschland vorkommen. Hier bahnt sich also die nächste geopolitische Abhängigkeit an, weshalb wir in der Forschung an Substituten und Recyclingkonzepten arbeiten.
Der Strommarkt macht nur 20 Prozent des Energiebedarfs aus, 80 Prozent basiert auf fossilen Energieträgern. Wie reduzieren wir diese Abhängigkeit von Kohle, Gas und Öl dauerhaft?
Zum einen müssen wir mehr und mehr Anwendungen auf elektrische Energie umstellen, beispielsweise durch Elektroantriebe bei der Mobilität oder elektrisch beheizte Industrieprozesse. Zum anderen können wir durch verschiedene Technologien zur Umwandlung oder Speicherung, sogenannten Power-2-X Prozessen, den Strom aus erneuerbaren Energien in chemische Energieträger umwandeln. Diese lassen sich dann flexibel für Produktionsprozesse der Industrie oder für die Langzeit-Speicherung von Energie nutzen.
Sie haben „disruptive Szenarien“ für ein europäisches Energiesystem vorgeschlagen, wie sehen die aus?
Wir können disruptive Szenarien wie zum Beispiel einen Totalstopp der Gaslieferung aus Russland mit unseren sehr genauen Rechenmodellen simulieren und mit Blick auf ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Gesellschaft bewerten sowie erste Handlungsoptionen ableiten. Das heißt aber nicht, dass wir sie vorschlagen. Es ist wichtig, die Chancen und die Nachteile möglicher Szenarien zu kennen, damit die Politik Entscheidungen treffen kann. Und dazu können wir qualifizierte Beiträge leisten. Weitere hypothetische disruptive Szenarien, die zu simulieren wären, könnten etwa ein sehr plötzlicher Ausstieg aus der Kohleverstromung im Rahmen der Energiewende sein oder eine sehr schnelle Umstellung auf eine reine Wasserstoffwirtschaft.
Wenn wir bis zum Spätsommer tatsächlich die Abhängigkeit von russischem Gas, Erdöl sowie von der Kohle auf null reduzieren wollen, welche ersten drei Schritte würden Sie der Politik empfehlen? Wie lässt sich das mit den Klimazielen vereinbaren?
Eines muss uns klar sein: Eine Reduzierung der Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland auf Null bis Spätsommer ist eine Illusion. Wichtige Schritte zu einer vollständigen Substitution in sehr wenigen Jahren sind eine konsequente Diversifizierung unserer Energieimportländer, um Abhängigkeiten zu reduzieren. Außerdem brauchen wir eine offene Kommunikation der Politik mit der Gesellschaft über die ökonomischen wie auch die ökologischen Konsequenzen. In meiner Rolle als Vizepräsident für den Forschungsbereich Energie der Helmholtz-Gemeinschaft spreche ich mich entschieden für eine enge Zusammenbindung der Kompetenzen in Wirtschaft und Wissenschaft zur beschleunigten Umsetzung der Energiewende aus. Die Politik kann und muss uns den Rahmen setzen und kann damit bei der Umsetzung der Energiewende auf die volle Unterstützung aus der Wissenschaft aufbauen.
Deutschland ist in einem breiten politischen Konsens aus der Atomenergie-Technologie ausgestiegen. Ist es überhaupt möglich, in dieser Situation in die Forschung und Produktion wieder einzusteigen und wettbewerbsfähig mit den Wettbewerbern in Frankreich oder Finnland zu werden?
Als Forschungsuniversität lehren und forschen wir zur nuklearen Sicherheit auf höchstem wissenschaftlichen Niveau. Das ist unser forschungspolitischer Auftrag, dem wir unseren Zuwendungsgebern gegenüber verpflichtet sind. Aber neben dem nationalen Bedarf bei Behörden und Fachorganisationen sehe ich heute die Zukunft der Kernenergie und damit auch der Arbeitsplätze für unsere Absolventinnen und Absolventen im Ausland. Weltweit beobachten wir ein steigendes Interesse an sogenannten Kleinen Modularen Reaktoren mit einer elektrischen Leistung bis zu 300 Megawatt*, wie zum Beispiel dem rein passiv betriebenen NuScale-Konzept mit einer elektrischen Leistung von etwa 60 MW pro Modul, das von einer amerikanischen Firma aus Tigard in Oregon kommerzialisiert wird. Für einen Weiterbetrieb der bestehenden Kernkraftwerke in Deutschland würden mindestens neue Brennelemente erforderlich sein. Dies steht derzeit nicht zur Diskussion, denn der Ausstieg aus der Kernenergie ist in einem breiten gesellschaftlichen Kontext erfolgt.