Der bayrische Ministerpräsident würde am liebsten in ganz Deutschland eine nächtliche Ausgangssperre verhängen. Dabei gibt es keinen Beleg dafür, dass diese Form der Freiheitsberaubung etwas bringt. Wenn überhaupt, dann dient sie seinem Inszenierungsfuror.
Es gibt ein einziges Argument für Ausgangssperren, und es ist kein gutes: Wer sich als Politiker als besonders entschlossener Kämpfer gegen die Pandemie inszenieren will, der wirkt als Befürworter dieser Massnahme noch ein bisschen entschlossener. Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder etwa drohte den Bewohnern seines Freistaats schon im März: Wenn sie sich nicht freiwillig beschränkten, dann bleibe nur die landesweite Ausgangssperre. Und obwohl Deutschland ein föderaler Staat ist und Söders Exekutivmacht kurz hinter Aschaffenburg und Memmingen endet, lässt er seither keine Gelegenheit aus, auch für den Rest der Republik eine Ausgangssperre zu fordern. Die Kanzlerin und ein grosser Teil der veröffentlichten Meinung sind dabei auf seiner Seite.
In der Schweiz, wo Ausgangssperren bisher keine Chance hatten, mag man sich darüber wundern. Aber die meisten Deutschen – der Autor dieses Kommentars ist selbst einer – haben Freiheitsrechten noch nie einen hohen Wert beigemessen. Sie schätzen Sicherheit oder das, was ihnen paternalistische Politiker als solche verkaufen.
Das vermeintliche Vorbild Portugal
Beim Thema Ausgangssperren verweisen die Befürworter gerne auf Länder wie Portugal oder Grossbritannien. Dort habe man doch gesehen, dass die Massnahme etwas bringe, sagte etwa die ARD-Moderatorin Caren Miosga kürzlich in einem Interview mit dem bayrischen Ministerpräsidenten; die Journalistin des öffentlichrechtlichen Fernsehens und Söder wirkten dabei wie ein Herz und eine Seele. Aber sind Ausgangssperren wirklich das Mittel, das die Zahl der Infektionen in den besagten Ländern gesenkt hat?
Wissenschafter aus Grossbritannien, den USA und Australien haben die Massnahmenbündel Dutzender Länder miteinander verglichen. Anhand der Verläufe des Reproduktionswerts (R-Wert) schätzten sie, welche Massnahmen effektiv waren und welche nicht. Die Mitte Februar im Magazin «Science» präsentierten Ergebnisse zeigen, dass vor allem das Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen und auch die Schliessung von Schulen und Universitäten etwas bringen. Den geringsten Effekt hätten zusätzliche Ausgangssperren.
Politiker wie der bayrische Ministerpräsident müssen aber gar keine wissenschaftlichen Artikel lesen. Es würde reichen, wenn sie deutsche Gerichtsurteile zur Kenntnis nähmen. So hat etwa das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die gerade erst verhängte nächtliche Ausgangssperre für die Region der Landeshauptstadt an diesem Mittwoch per Eilbeschluss in der Luft zerrissen.
Eine Ohrfeige vom Gericht
Hier ein paar Auszüge: Die politisch Verantwortlichen hätten «nicht ansatzweise nachvollziehbar» gezeigt, dass sie in ausreichendem Masse andere, weniger drastische Massnahmen zur Reduzierung von Kontakten ergriffen hätten. Sie hätten «nicht annäherungsweise» belegen können, wie viele private Zusammenkünfte nachts tatsächlich stattfänden. Es sei auch «nicht zielführend», wenn sie ein diffuses Infektionsgeschehen ohne Beleg in erster Linie mit einer angeblich mangelhaften Disziplin der Bürger erklärten. Eine Ausgangssperre auf Verdacht zu verhängen, lasse sich in einem so fortgeschrittenen Stadium der Pandemie schlicht «nicht mehr rechtfertigen». In Bayern würde man von einer Watschn sprechen.
Die staatliche Ahnungslosigkeit ist nicht auf ein einzelnes Bundesland beschränkt. Nicht nur wissen sie bei der obersten deutschen Seuchenschutzbehörde bis heute ziemlich wenig darüber, wo sich die Menschen anstecken. Sie wissen sogar noch weniger als früher. Das zeigt ein Diagramm im neuen «Lagebericht» des Robert-Koch-Instituts, welches die Sars-CoV-2-Fälle konkreten Ansteckungsorten zuordnet, etwa Privathaushalten, Kindergärten oder Krankenhäusern. Der Anteil mit der Aufschrift «Nicht in Ausbruch erfasst» ist so gross wie nie.
Deutschland gibt im Kampf gegen die Pandemie kein gutes Bild ab. Über die Gründe – Regelungswut, Risikoscheu, fehlender Pragmatismus, Papierliebe – ist viel geschrieben worden. Das Bild würde sich noch mehr eintrüben, wenn sich seine Bürger im 13. Monat der Pandemie zu Hause einsperren liessen: ohne einen Beleg für die Wirksamkeit dieser Freiheitsberaubung, weil der Staat auf so vielen anderen Ebenen versagt hat und weil Politiker wie der bayrische Ministerpräsident so gerne fest entschlossen wirken.