Das Portal „Correctiv“ ist für seinen Bericht zum Potsdam-Treffen stark kritisiert worden. Es ist darum unverständlich, warum der Organisation trotzdem weiterhin die Rolle eines Schiedsrichters zur Meinungsfreiheit zuerkannt wird, meint unsere Autorin.
Drei Millionen Menschen gingen Anfang des Jahres auf die Straße, mehr als 1100 Kundgebungen sollen es gewesen sein und damit laut Wikipedia „die größte Demonstrationsserie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Ein „Geheimplan gegen Deutschland“, so hatte das Portal „Correctiv“ seinen Bericht über ein Treffen in Potsdam im November 2023 beschrieben, erschütterte das Land.
Inzwischen ist es still geworden um das Thema. Interessierte verfolgen noch die juristischen Scharmützel im Nachgang. „Correctiv“ wurde mit Auszeichnungen überschüttet, vom Carlo-Schmidt-Preis bis zum renommierten „Leuchtturm“ für besondere publizistische Leistungen.
Und in der Bevölkerung dürfte vor allem das Wort „Deportation“ hängen geblieben sein, bei dem in Deutschland sofort die systematische Vernichtung von Millionen von Menschenleben anklingt. Von „rassistischen Deportationsplänen Rechtsextremer“ sprach etwa im März sogar der Bundeskanzler in seiner Ansprache anlässlich des Beginns des Ramadans.
War es das? Vermutlich. Die meisten, die in Deutschland über die kulturellen Produktionsmittel verfügen, in den Medien, den NGOs und den Universitäten, haben kein Interesse, das Thema noch mal anzurühren, viele machen sogar einen extra großen Bogen um das heikle Terrain.
Denn natürlich ist auch bei ihnen längst durchgesickert, dass das eventuell doch nicht so korrekt lief bei „Correctiv“. Dabei interessiert die Frage, ob „Correctiv“ auch über illegale heimliche Tonaufnahmen des Treffens an seine Informationen gelangte, wie ein amerikanisches Nachrichtenmagazin behauptet hatte und von „Correctiv“ dementiert wurde, sogar nur am Rande.
Entscheidender ist, ob „Correctiv“ dem eigenen hochfahrenden Anspruch „sorgfältig recherchierter Informationen“, „für einen faktenbasierten Diskurs“, gegen „Halbwahrheiten und Gerüchte“ gerecht wurde. Denn davon gingen Millionen von Menschen, die nach den Enthüllungen in echter Sorge um unsere Demokratie auf die Straße gingen, mit Sicherheit aus.
Wenn man sich die Machart der correctiv‘schen Berichterstattung und vor allem auch die oft gar nicht so transparenten Korrekturen und Ausflüchte in der Zeit nach der Veröffentlichung anschaut, kann man meines Erachtens nur zu dem Urteil gelangen: Nein, leider an den eigenen Maßstäben gescheitert.
So wurde etwa der Schlüsselbegriff „Deportation“ genau an der Stelle verwendet, an der er juristisch völlig unangreifbar ist: im Zusammenhang mit den Plänen der Nationalsozialisten, vier Millionen Menschen auf die Insel Madagaskar zu deportieren.
Das, was der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner bei dem Treffen vorgetragen habe, „erinnert“ an diese „alte Idee“, so heißt es wörtlich im „Correctiv“-Bericht. Unklar sei allerdings, „ob Sellner die historische Parallele im Kopf hat“, beteuert „Correctiv“ dann auch noch treuherzig und hat das offenkundige Ziel erreicht: Das böse Wort ist im Zusammenhang mit dem Potsdamer Treffen in der Welt.
Und entsprechend dominierten in dem medialen Sturm, der anschließend losbrach, und der Millionen auf die Straße trieb, genau diese Begrifflichkeit: Deportationspläne. Und „Correctiv“, für das es ein Leichtes gewesen wäre, die entgleisende Debatte etwa mit einem klarstellenden Tweet wieder auf die für sich reklamierte „faktenbasierte“ Grundlage zu stellen, schwieg lange, erst 19 Tage später stellte die stellvertretende Chefredakteurin fest, in der Recherche „steht nicht der Begriff ‚Deportation‘“ – das Verb „deportieren“ aber schon, aber eben im juristisch unangreifbaren Zusammenhang mit den Plänen der Nationalsozialisten.
Man muss schon ziemlich tief in die Materie eintauchen, um diese spitzfindige Sophisterei zu begreifen. Aber vermutlich war das auch gar nicht das Ziel von „Correctiv“, der selbsternannte Kämpfer gegen „Halbwahrheiten“ hat hier offenkundig genau das getan: Halbwahrheiten in Umlauf gesetzt, irgendwas wird schon hängen bleiben. Zumindest beim Bundeskanzler ist das gelungen.
Ähnlich ging „Correctiv“ bei einer weiteren zentralen Aussage vor, der Frage, wer denn nun eigentlich von den diskutierten Remigrationsplänen betroffen sein soll. Es gehe um einen „Masterplan“ zur Ausweisung von deutschen Staatsbürgern „aufgrund ihrer ‚Ethnie‘“, hatte „Correctiv“ am 10. Januar 2024 zunächst behauptet. Und einen Tag später, am 11. Januar, die Aussage „aufgrund ihrer ‚Ethnie’“ klammheimlich gelöscht. Sechs Wochen später räumte „Correctiv“ die Korrektur ein, in einem „Update“ vom 27. Februar heißt es, man habe den Satz „aus redaktionellen Gründen gekürzt“. Aus redaktionellen Gründen, so so.
Aber auch hier änderte die nachträgliche Korrektur kaum noch etwas, die Botschaft war in der Welt. „Millionen Deutsche haben Angst vor Abschiebungen“, behauptet etwa die „Tagesschau“ bis heute. Das ARD-Magazin „Panorama“ hatte nach dem Erscheinen der „Correctiv“-Recherche gleich die passende Umfrage in Auftrag gegeben, die dann auch das erschütternde Ergebnis lieferte.
Dumm nur, dass die Tagesschau den zugehörigen Artikel wieder ändern musste, weil man sich offenbar zu sehr auf die „Correctiv“-Recherche verlassen hatte: Die diskutierten Pläne hätten „auch ‚nicht-assimilierte’ deutsche Staatsbürger“ betroffen, hieß es zunächst. Inzwischen schreibt die „Tagesschau“, die Pläne beträfen „‚nicht-assimilierte’ Ausländer. Davon könnten laut „Correctiv“ auch Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft betroffen sein“. Ein Hinweis, der die Korrektur transparent macht, findet sich auf tagesschau.de nicht.
Wenn man sich die Mühe macht, sich all das genau anzuschauen, bleibt ein schaler Nachgeschmack: An entscheidenden Stellen ging es „Correctiv“ offenbar darum, einen bestimmten Eindruck zu erzeugen, eine bestimmte Story zu erzählen, ohne dafür juristisch in Haftung genommen werden zu können.
Oder wie es Christoph Kucklick, Chef der renommierten Henri-Nannen-Journalistenschule, und der Medienjournalist Stefan Niggemeier formulierten: Der „Correctiv“-Text „unterstellt, statt zu belegen, er raunt, statt zu erklären, er interpretiert, statt zu dokumentieren.“ „Correctiv“ erzeuge eine „systematische Unsicherheit über das, was eigentlich die Aussage des Artikels ist und worin der Skandal von Potsdam besteht“.
Faktencheck bei Facebook übernommen
Aber wer macht sich diese Mühe schon? Und so bleibt „Correctiv“ nicht nur eine angesehene NGO, die auch großzügig staatlich finanziert wird. Sondern immer öfter wird ihr auch die Rolle eines Schiedsrichters zuerkannt, einer unparteiischen Instanz, nur der Wahrheit und Klarheit verpflichtet, die darüber richten darf, welche Aussagen in Deutschland noch der Meinungsfreiheit unterliegen, und welche nicht.
So übernimmt „Correctiv“ seit einigen Jahren den Faktencheck bei Facebook. Die Sichtbarkeit von Beiträgen, die von „Correctiv“ angezweifelt werden, wird durch technische Parameter in der Datenbank von Facebook reduziert. Im Juni 2020 traf sich „Correctiv“ mit Vertretern der damaligen Bundesregierung, um über die „Bekämpfung von Desinformation“ im Kontext der Corona-Pandemie zu sprechen.
Und jüngst hat ein Bürgerrat „Forum gegen Fakes“, der von der Bertelsmann-Stiftung initiiert wurde, sein „Bürgergutachten“ an Bundesinnenministerin Nancy Faeser übergeben. Darin die Empfehlung, ein „Desinformationsranking“ zu Aussagen politischer Akteure im Wahlkampf einzuführen. Das Ranking solle von einem „gemeinwohlorientierten, unabhängigen Medienhaus“ erstellt werden. „Beispielsweise“, so die Autoren, „‚Correctiv‘“.
Kristina Schröder war von 2002 bis 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 2009 bis 2013 Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Heute ist sie unter anderem als Unternehmensberaterin tätig und als stellvertretende Vorsitzende von REPUBLIK21, Denkfabrik für neue bürgerliche Politik. Sie gehört der CDU an und ist Mutter von drei Töchtern.