Unsere Autorin wollte sich nicht gegen Corona impfen lassen. Sie wurde ausgegrenzt. Nun fragt sie sich: Was ist geschehen, dass wir einander nicht mehr aushalten?
Als ich einen langjährigen Freund zu meinem 54. Geburtstag einlud, hörte ich erst lange nichts, dann auf Nachfragen, dass ihn verstört hätte, was ich bei unserer letzten Begegnung gesagt habe. Sein „Ich will ehrlich sein“, signalisierte mir, dass ich mich durch das Gesagte für ihn zur Persona non grata gemacht hatte.
Ich war erstaunt und erschüttert, denn ich hatte das Thema als Beispiel für eine Meinungsverschiedenheit genommen und hinzugefügt: Wenn wir jetzt darüber streiten, um zu beweisen, dass man selber recht und der andere unrecht habe, brauchen wir das Gespräch nicht zu führen, und ich will es auch nicht.
Mich interessiert nämlich gar nicht, ob ich recht habe, mich interessiert, ob wir beide in diesem Zimmer sitzen und aushalten können, dass wir in diesem Punkt anderer Meinung sind. Weil ich es ernst gemeint hatte, war ich mir sicher, dass wir diese Hürde gemeistert hatten, ich erinnere mich auch, dass ich ihm zum Abschied versichert hatte, die Beziehung zu ihm sei mir wichtiger als mein Wunsch, mit ihm übereinzustimmen.
Er hat es wohl nicht ausgehalten. Gern würde ich mit ihm darüber sprechen, dass auch ich es schwer aushalte, mit Menschen, die ich mag, nicht übereinzustimmen. Natürlich ahne ich, dass es bei vielen Freunden in den letzten Jahren einen Punkt gab, wo sie meinten, ich hätte mich irgendwie radikalisiert oder sei „abgedriftet“, habe mich so sehr von ihren wichtigsten Werten entfernt, dass eine Freundschaft nicht mehr möglich sei. Und es gibt offensichtlich keine Möglichkeit mehr, ihnen zu sagen, dass es nicht so ist.
Im Gegenteil, durch meine Ausgrenzungserfahrungen in den letzten Jahren habe ich begriffen, wie Radikalität entsteht und dass es mitnichten so ist, dass einige plötzlich radikal werden, sondern dass diese geistige Enge etwas ist, das wir gemeinsam herstellen. Ich beginne mit einem Thema, das viele nicht mehr hören können, aber keine Angst, ich werde nicht argumentieren, sondern nur schildern.
Als die Corona-Pandemie begann und der Impfstoff kam, wollte ich mich nicht impfen lassen. Ich glaubte nicht, dass Impfen gegen einen Atemwegsvirus etwas ausrichten kann und hatte Bedenken gegen die meiner Meinung nach nicht ausgereifte mRNA-Technologie. Nicht mehr und nicht weniger. Ich war nicht über Nacht rechtsradikal geworden oder gar antisemitisch, hatte keine seltsamen Blogs gelesen, die ich bis dahin gar nicht kannte, hasste nicht die damalige Regierung, fühlte mich nicht einsam und hatte keine besonderen Vorbehalte gegen Impfungen, ich wollte mich nur nicht gegen Covid impfen lassen.
Und jetzt ersetzt man diese Meinung mit einem großen X und stelle sich vor, ich sitze mit einem X im Kopf in einer geselligen Runde und andere haben ein Y im Kopf. Tatsächlich muss ich gestehen, dass es für mich kaum aushaltbar war, nicht in die Köpfe der anderen greifen zu können und aus dem Y ein X zu machen. Also beschloss ich, zu akzeptieren, dass andere andere Gedanken in ihren Köpfen haben. Es ist erstaunlich, wie unendlich schwer mir das fiel.
Andersherum wollten die Menschen mich von ihrem Y überzeugen, ihr Argument: Die meisten denken Y, dann muss Y doch richtig sein. Dieser Kampf hat mich einiges gelehrt, über mich und die anderen und über das, was Wahrheit sein soll.
Ich bin, also irre ich mich
Als Erstes stellte ich mir die Frage, ob es sein könnte, dass ich mich irre. Nachdem ich diese Frage mit „Ja“ beantwortet habe, habe ich gleich gemerkt, dass es nicht darauf ankommt, ob ich mich irre; denn solange ich über eine Sache so denke und fühle und nicht anders, bleibt mir ja nichts anderes übrig, als mich danach zu verhalten. Mir wurde im Laufe der drei Jahre klar, dass Freiheit bedeutet, sich frei ausdrücken zu können. Und eben nicht nur dann, wenn man recht hat. Das ist Freiheit – anwesend sein. Mit all seinen Wahrheiten und Irrtümern.
Unangenehm ist mir deswegen aufgestoßen, als ich mir im Mai 2020 ein Video des Arztes und Wissenschaftlers Sucharit Bhakdi ansehen wollte und es vor meinen Augen gelöscht wurde. Ich rief eine Freundin an, berichtete ihr davon, woraufhin sie sagte, „ach der Bhakdi, der redet doch Unsinn“. Dass wir vor 2020 Abende vor ihrem Rechner gesessen und YouTube-Videos mit absurden Welterklärungen geschaut hatten, mal staunend, mal lachend, war ihr offensichtlich entfallen.
Was ist, wenn Menschen, die angeblichen oder echten Unsinn verkünden, nicht mehr anwesend sein, sich also nicht mehr äußern dürfen? Wenn Y richtig ist und deswegen andere vor X geschützt werden müssen. Die Antwort ist ganz einfach, dann werden die Ypsilons verrückt. Denn sie befinden sich plötzlich in einem geschlossenen System.
Die Wahrheit ist ja nicht Y oder X, sondern sie entsteht in dem Moment, in dem Y sich X stellt. Andersherum natürlich genauso. Warum sollte man vor diesem Vorgang Angst haben? So viel Angst, dass inzwischen in Frankreich unter Strafe gestellt ist, von Therapien abzuraten, die nach Stand der medizinischen Erkenntnisse zur Behandlung einer Krankheit geeignet sind? Wahrheit kann nur in der Auseinandersetzung entstehen – ist ein X so absurd (z.B. die Erde ist eine Scheibe), lohnt sich diese Auseinandersetzung natürlich nicht. Aber darum die Aussage verbieten?
Was Wahrheit ist, ist eine große philosophische Frage, die ich nicht klären kann. Ich möchte mich lieber mit dem Zirkelschluss befassen, dass manche meinen, man dürfe sich nur an der öffentlichen Diskussion beteiligen, wenn man Richtiges zu verkünden hat. Dieser Zirkelschluss führt irgendwann dazu, dass viele glauben, eine Meinung eines Menschen sei so radikal anders, dass sie den Kontakt zu dieser Person abbrechen müssten. Sie verorten die Radikalität in einer konkreten Person – und meinen, sich dieses Problems zu entledigen, wenn sie mit der Person nichts mehr zu tun haben.
Enge des Denkens und Radikalität entsteht aber durch die Trennung der Menschen voneinander, denn was machen die ausgestoßenen X? Sie umgeben sich, weil der Druck so stark wird, mit anderen Menschen, die X denken. Und auch die Ypsilons bleiben unter sich. Durch den mangelnden Widerspruch wird es auf beiden Seiten radikal und immer radikaler.
Diejenigen, die in der Minderheit sind, denken irgendwann nicht zu Unrecht: Die Mehrheit hat etwas gegen uns, die Gesellschaft will uns nicht dabeihaben. Und was machen die anderen? Sie ergötzen sich an Artikeln und Sendungen, in denen diese Radikalität dokumentiert wird und freuen sich, dass sie zu den Ypsilons gehören.
Walter Benjamin schrieb Anfang der 1930er: „Das Erstarken der Rechten ist ein Versagen der Linken.“ Das habe ich erst jetzt in seiner tiefenpsychologischen Dimension begriffen. Das eine ist immer das Spiegelbild vom anderen. (Auch wenn rechts und links heute nicht mehr unbedingt das Gleiche bezeichnen.)
Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert, wir sind wie auf einer abschüssigen Rampe, in der einige noch sehr bemüht sind, hinaufzuklettern, aber letztlich scheinen Beziehungen und Freundschaften ins Rutschen zu geraten. Es entzweien sich Menschen über Themen, für die sie sich vorher vielleicht nicht einmal besonders interessiert haben.
Gehörst du dazu – oder nicht?
Als Schriftstellerin ist mir als Erstes die Veränderung der Sprache aufgefallen, plötzlich gab es Worte, die ausschlossen. Jeder hat sie schon verwendet. Corona-Leugner, Klima-Kleber, Schlafschafe, Putin-Versteher, Aluhutträger, rechtsradikal. (Wie es übrigens Menschen geht, die plötzlich als rechts bezeichnet werden, die es nie waren und heute nicht sind, scheint vielen nicht klar zu sein.)
Im letzten Gespräch mit einer ehemaligen Lektorin fiel das Wort Corona-Leugner, ob ich auch einer sei. Ich fragte sie, ob sie auch wie ich finde, dass solche Worte dazu dienen, Menschen in Gruppen einzuteilen. Das Misstrauen, was mir entgegenschlug, war mir neu. Es war nicht ihr Misstrauen, es war einfach in der Welt. Man konnte sich dem nicht entziehen. Aber wenn wir uns in Lager einteilen, wie sollen wir uns dann frei begegnen?
Über die Hintergründe dieser gesellschaftlichen Spannungen haben sich schon viele Menschen Gedanken gemacht. Man könnte sich fragen, wohin das Misstrauen gegenüber Pharmaunternehmen verschwunden ist, die schon so oft bewiesen haben, dass es ihnen nicht um die Gesundheit der Menschen geht. Wohin der Widerspruchsgeist gegen Politiker und Regierung, die Vorsicht gegenüber Milliardären mit größenwahnsinnigen Ideen, die Empfindsamkeit gegenüber Ausgrenzung. Dazu hätte ich viel zu sagen, weiß aber, dass ich im Moment nur die erreiche, die so ähnlich denken wie ich.
Es geht mir nicht darum, für meine Ansichten zu werben, nicht um geopolitische Zusammenhänge (die ich nicht beeinflussen kann), um in meinen Augen verbrecherische Verträge, Veruntreuung von Staatsgeldern. Es geht mir um etwas ganz Einfaches. Weil es das Einzige ist, was ich beeinflussen kann. Es geht mir um die Beziehungen, die wir zueinander haben. Sind sie in Ordnung, ist die Gesellschaft immun gegen Radikalität. Sind sie gestört, gerät auch die Gesellschaft unter Spannung. Unter diesen Spannungen leiden wir alle.
Wohin ist die schöne Zeit, als ich bei einer Freundin zum Abendbrot eingeladen war und eine Nachbarin vorbeikam und wir über die Todesstrafe diskutierten: Alle Personen am Tisch waren dagegen, nur die Nachbarin nicht. Wir haben argumentiert, geschrien und dennoch zusammen gelacht. Nicht eine Sekunde habe ich gedacht, ich müsste den Kontakt zu dieser Nachbarin abbrechen. Und was ist mit meinen Vätern? Der leibliche ein Israeli, der Adoptivvater ein Iraner.
Alles muss sein, wie ich will
Manchmal frage ich mich, ob das nicht ein weiteres Zeichen der Entfremdung ist. Weil uns in dieser Konsumwelt suggeriert wird, dass alles nach unseren Vorlieben und Bedürfnissen zu sein habe. Und man mit allem, was nicht diesen Bedürfnissen entspricht, nicht behelligt werden mag. Dadurch wird die Begegnung mit dem anderen zur Zumutung. Das andere stört. Ohne Störung aber wird die Welt langweilig und reizlos.
Und doch erliegt fast jeder dieser entsetzlichen Bequemlichkeit, denn Menschen sind anstrengend, waren es schon immer. Früher hat uns Langweile oder die eigene Unruhe zu ihnen hingetrieben, jetzt ist immer und überall jede gewünschte Beruhigung verfügbar. Was wäre, wenn nur drei Tage keine Serien, keine Musik und Social Media verfügbar wären. Würden wir einander wiederentdecken?
Wenn jedem bewusst wird, dass er die Radikalisierung der Gesellschaft mitbetreibt, können wir vielleicht etwas dagegen tun. Es geht nicht um erzwungene Übereinstimmung oder ungewollte Versöhnung, es geht darum, zu erkennen, dass, weil ich den Schmerz der Nicht-Übereinstimmung nicht aushalte, den anderen weghaben will. Und ihn genau dadurch zu einem Menschen mache, der „abgedriftet“ ist.
Ich bin, wie so viele, müde, bestimmte Dinge zu diskutieren. Es geht im Moment nicht, denn man spürt, dass viele Menschen einander nur belauern, um herauszufinden, ob das Gegenüber noch dazugehört oder schon eine/einer von denen ist. Ich will aber nirgendwo hingehören, ich will anwesend sein und andere anwesend sein lassen können. Wehret den Anfängen meint genau das – gegen die Verengung der Gesellschaft etwas zu tun. Nicht neue Feindbilder aufzustellen.
Rebecca Niazi-Shahabi stammt aus einer deutsch-israelisch-iranischen Familie und lebt in Berlin. Sie arbeitet als Autorin und Werbetexterin.
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