In liberalen Ländern sagen die Bürger dem Staat, was er tun soll. SPD, Grüne und FDP wollen dieses Kräfteverhältnis umkehren und die neuen «engagierten» Demokraten schon im Kindergarten politisieren.
Sie lesen einen Auszug aus dem werktäglichen Newsletter «Der andere Blick», heute von Alexander Kissler, Redaktor im Berliner Büro der NZZ. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
Die deutsche «Ampel» ist in ihren sechsten Monat eingetreten. Mitte Dezember vergangenen Jahres gab Kanzler Olaf Scholz seine erste Regierungserklärung ab. Hartnäckig hält sich seitdem der Vorwurf, die Drei-Parteien-Koalition habe den Mund zu voll genommen. Die Digitalisierung komme nicht voran, die wirtschaftliche Entwicklung harze, das Gesundheitssystem lahme, die «Aktienrente» lasse auf sich warten. Es sei ein einziges Hauen und Stechen, Zögern und Zaudern.
Mildernd können SPD, Grüne und FDP auf den Ukraine-Krieg und dessen Folgen verweisen. Und mit Stolz können sie den Blick richten auf jene Bereiche, in denen sie tatsächlich liefern. Der gesellschaftliche Umbau, den Olaf Scholz versprach, die soziale Transformation, schreitet voran. Die Gesellschaft ist auf dem besten Weg, sich zur Gemeinschaft der Engagierten zu entwickeln. Doch ist das wirklich ein Fortschritt?
Jeder Plan trägt den Keim des Scheiterns in sich, und nicht alle Gesetze ändern die Wirklichkeit. Niemand aber kann den drei Regierungsparteien ihren Willen absprechen, die Gesellschaft grundlegend umzugestalten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD etwa fordert und fördert eine «Demokratieerziehung».
So stellt sie den Deutschen ein bedenkliches Zeugnis aus. Ganz offensichtlich sind ihre Landsleute knapp 80 Jahre nach Kriegsende und 33 Jahre nach dem Mauerfall immer noch nicht (oder nicht mehr) ordentliche Demokraten. Wäre dem wirklich so, ganz Europa und die halbe Welt müssten sich sorgen. Womöglich aber ist Faesers Diagnose ein rhetorischer Kniff, damit ihr Lieblingsprojekt, das «Demokratiefördergesetz», die Hürden der Notwendigkeit leichter überspringt.
Die «engagierte Zivilgesellschaft» als Mass der Dinge
Bis Ende Jahr soll ein gemeinsam mit dem Familienministerium erarbeiteter Gesetzentwurf vorliegen. Initiativen und Vereine, die bisher auf kurzfristige Projektförderung angewiesen waren, dürfen sich dann auf regelmässige Zahlungen aus dem Staatshaushalt freuen.
Deutschland, heisst es im Diskussionspapier der beiden Ministerien, brauche «demokratisches Engagement sowie überzeugte Demokratinnen und Demokraten». Darum sollen «Projekte im Bereich der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung und Extremismusprävention verlässlich unterstützt werden». Familienministerin Lisa Paus von den Grünen präzisiert: Die «engagierte Zivilgesellschaft» verdiene jede staatliche Unterstützung.
Ist bereits die Zivilgesellschaft ein seltsamer begrifflicher Bastard von Staat und Gesellschaft, die sich in fruchtbarer Spannung gegenüberstehen sollten, so ist die «engagierte Zivilgesellschaft» vollends ein hölzernes Eisen. Gemeint sind gesellschaftliche Akteure, die im Sinne der derzeit regierenden Parteien agieren und dafür vom Staat bezuschusst werden. Der Staat will sich eine Gesellschaft nach seinem Bilde formen. Letztlich wird der Bürger unter Vorbehalt gestellt.
Dauerhaft förderungswürdig sind in erster Linie jene identitätspolitischen Player, die Kurse anbieten und Seminare zum «Kampf gegen rechts», gegen den Klimawandel, für Integration und für «Vielfalt». Eine Extremismusformel, mit der die Initiativen jeder extremistischen Versuchung abschwören müssten, lehnen Paus und Faeser ausdrücklich ab.
Antifeministen und andere Menschenfeinde
Die «engagierte Zivilgesellschaft» soll sich gegen Rassisten und Extremisten jeglicher Couleur wenden, wenngleich deren rechtsextreme Ausprägung sehr oft erwähnt wird und die islamistische Form fast nie. Befremdlich stimmt auch, dass Faeser «Antisemiten und Antifeministen» in einem Atemzug nennt. Offenbar hält die SPD-Politikerin den Hass auf Juden und die Ablehnung des Feminismus unter «überzeugten Demokratinnen und Demokraten» für gleichermassen verabscheuungswürdig.
Um beides gar nicht erst entstehen zu lassen, plädiert Faeser für frühkindliche Demokratieerziehung. Der Kindergarten soll zum politischen Raum werden, in dem die Jüngsten spielerisch den «Kampf gegen Rechtsextremismus» erlernen. Nimmt man weitere Einlassungen Faesers, die auch Heimatministerin ist, für bare Münze, muss in der Kita ebenfalls der Kampf gegen den tradierten Heimatbegriff ausgefochten werden.
Heimat, sagt die Ministerin, «sind alle Menschen, egal, wo sie herkommen». Deshalb «müssen wir den Begriff Heimat positiv umdeuten und so definieren, dass er offen und vielfältig ist. Und dass er ausdrückt, dass Menschen selbst entscheiden können, wie sie leben, glauben und lieben wollen.» Wir lernen: Die Heimatministerin hält Heimat für einen negativen Begriff, der staatlicherseits umgedeutet werden muss. Sie verlangt dem Kollektiv eine Arbeit am Begriff ab, um anschliessend generös Individualität zuzuteilen.
Schon Vierjährige sollen die richtige Haltung zeigen
Der gesellschaftliche Umbau der «Ampel» hat zwei Ziele: Das Leben soll erstens zerfallen in eine Abfolge richtiger Entscheidungen, vom Kindergarten bis zum Sterbebett; so entsteht ein langer Fluss der Bekenntnisse und damit der ideologischen Normenkontrolle.
Zweitens bestimmt nicht mehr das Sein das Bewusstsein, sondern das Tun das Dasein. Wer nicht permanent mitmacht und mitzieht, der hat keinen Anteil an der Gemeinschaft der Engagierten. «Unser Zusammenhalt» (Paus) gilt den Unpolitischen nicht, ja nicht einmal denen, die Heimat bereits heute für einen positiven Begriff halten.
Schon Vierjährige sollen im Kindergarten die richtigen von den falschen Haltungen unterscheiden lernen. Dazu empfiehlt das vom Familienministerium betriebene «Regenbogenportal» ein Lesebuch mit der Geschichte einer männlichen Meerjungfrau. «Individualität, Diversität und Vielfalt» sollen die Kleinen so schätzen lernen. Die Kindheit darf keine Insel der Zweckfreiheit mehr sein und somit keine Kindheit in bisherigem Sinn. Politik überwölbt jede Lebensstufe.
Mit 14 Jahren, weiterhin also im minderjährigen Alter, soll dann jeder Jugendliche auf dem Standesamt frei entscheiden dürfen, welches Geschlecht er habe. So steht es in zwei im Sommer 2020 gescheiterten Gesetzentwürfen von Grünen und FDP, die nun in das von der «Ampel»-Mehrheit noch vor der parlamentarischen Sommerpause angestrebte «Selbstbestimmungsgesetz» einfliessen.
Abermals feiert der Wille zur Willkür Triumphe, selbst um den Preis, ins Absurde abzubiegen. Diese Meriten erwarb sich der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, der Grünen-Politiker Sven Lehmann, als er kürzlich behauptete, die geschlechtliche Identität könne prinzipiell nicht von aussen begutachtet werden, auch nicht von Ärzten.
Epochenbruch voraus
An den physischen Grenzen des Landes soll indes dasselbe fluide Prinzip gelten wie an jenen des Körpers: Die Behauptung definiert das Sein. Wer sich beim Asylantrag nicht ausweist, darf seine Nationalität durch eine eidesstattliche Erklärung festlegen. Diese Möglichkeit soll laut Innenministerin Faeser zwar nur eine Ausnahme in Notfällen sein – aber wie will man verhindern, dass die Ausnahme zur Regel wird? Abermals macht Identitätspolitik Identität zur Chimäre.
Auch die deutsche Rechtsprechung hat der neue Geist bereits erfasst. Das Verwaltungsgericht in Mainz entschied im April gegen die Stadt Worms, die einen Somalier nicht einbürgern wollte, weil dieser keine amtlichen Ausweisdokumente vorlegen konnte. Zeugenaussagen aus der Familie, so die Richter, müssten in Notsituationen genügen. Werden auf solcher Grundlage künftig auch jene «Verantwortungsgemeinschaften» geschlossen, wie sie die FDP im Familienrecht forciert? «Zwei oder mehr volljährige Personen» sollen bald, sofern sie nicht verwandt sind, ein solches Verhältnis eingehen dürfen.
In einer Rede Ende April verdeutlichte die Aussenministerin den Epochenbruch, den die «Ampel» ins Werk setzen will. «Identität im 21. Jahrhundert», erklärte Annalena Baerbock, bedeute «vor allen Dingen zivilgesellschaftliches Engagement, Eingebundensein in die Gesellschaft». Eine solche Definition bricht mit anthropologischen Gewissheiten und ist mit den Bedingungen eines liberalen Rechtsstaats kaum zu vereinbaren.
Identität wird demnach nicht vom Ich, sondern vom Kollektiv geprägt, und der Einzelne muss sich, um sie zu erlangen, engagieren. Erst das politisch erwünschte Engagement macht den Menschen aus. Nur die Gesellschaft sorgt für Individualität. Warum eine FDP, die sich als liberale Partei begreift, diese etatistischen Manöver teils toleriert, teils begrüsst, wird sie ihrer Kernwählerschaft noch erklären müssen. Schwer verständlich ist auch das ohrenbetäubende Schweigen von CDU und CSU, die der Austreibung des Bürgerlichen bis jetzt nichts entgegensetzen.
So lautet das Fazit: Die «Ampel», die eine angstfreie, vielfältige, freie Gesellschaft schaffen will, ängstigt sich vor Vielfalt und Freiheit.