Deutschland hadert und zögert, allen entschlossenen Bekundungen des Bundeskanzlers zum Trotz. Andere Länder handeln dagegen – und liefern der Ukraine „schweres Gerät“. Das wirft gleich eine ganze Reihe wichtiger Fragen auf. Zum Beispiel: Was verschweigt die Verteidigungsministerin? Und welches Kriegsziel hat eigentlich der Westen? Lesen Sie hier Teil 2 der Analyse.
Am Mittwochabend saß Lars Klingbeil bei Markus Lanz auf dessen heißem Talkshow-Stuhl. Und musste begründen, weshalb Deutschland der Ukraine die Waffenlieferung von Panzern und anderem schweren Gerät versage. Der Grund ist ein Phänomen, das die Briten einst erfanden, um eine für sie sonderbare Eigenschaft der Deutschen zu erklären: „German Angst“.
Der SPD-Vorsitzende im Originalton: „Vom Völkerrecht her gibt es eine Schwelle, wo Russland uns dann zum Kombattanten erklären könnte, weil man sagt: Jetzt liefert ihr schweres Gerät. Jetzt liefert ihr die Panzer und damit seid ihr automatisch Kriegspartei.“ Und dies wiederum könne dann die Rechtfertigung sein, um Deutschland anzugreifen. Die Frage, um die es gehe, sei: „Wo ist die Schwelle?“ Mit anderen Worten: Deutschland fürchtet im Falle der Lieferung schwerer Waffen, ins Fadenkreuz von Wladimir Putin zu geraten.
Diese Furcht erklärt auch ein zunächst kryptisch anmutendes Zitat der Verteidigungsministerin aus der Sitzung des Bundestages am selben Tag.
Liefern deutsche Waffen Putin den Vorwand Berlin anzugreifen?
Ausweislich des Bundestagsprotokolls lautet das Lambrecht-Zitat aus der Butscha-Sitzung im Wortlaut so: „Wer so handelt wie Putin dem ist egal, ob die Leichen auf den Straßen von Butscha oder die Leichen auf den Straßen von Tiflis, Vilnius oder Berlin sind.“ Tiflis ist die Hauptstadt Georgiens, welches nicht der Nato angehört. Anders als Vilnius, die Hauptstadt Litauens, und natürlich Berlin.
Denkt man die Äußerungen des SPD-Bundeskanzlers, der SPD-Verteidigungsministerin und des SPD-Vorsitzenden zusammen, addieren sie sich zu der Befürchtung, dass die Lieferung schweren Geräts durch Deutschland Putin den Vorwand liefert, Berlin anzugreifen.
Denn das war von Beginn an die rote Linie, die Scholz, aber auch alle anderen Staats- und Regierungschefs des westlichen Verteidigungsbündnisses gezogen hatten – die Nato dürfe niemals Kriegspartei werden, weil dies zu einem „Dritten Weltkrieg“ führen werde.
Die Frage der Fragen ist nun aber die: Wenn die Lieferung von Abwehrwaffen wie den Strela-Raketen aus alten Beständen der NVA der DDR Deutschland nicht zum Kriegs-Kombattanten gemacht hat, ändert sich das mit der Lieferung von „Marder“-Panzern?
Die Union ist in dieser strategischen Frage jedenfalls anderer Meinung als die Regierung – wobei auffällt, dass die Vorbehalte bisher vor allem aus der SPD geäußert werden. Jener Partei also, der die Ukraine vorwirft, sich Putins Lesarten ausgeliefert zu haben. Hier betreten wir eine interpretatorische Grauzone.
Bergepanzer, Brückenlegepanzer, Kampfpanzer, Artilleriegeschosse
Nicht in einer Grauzone liegt die Antwort auf die Frage, ob die Ukraine das „schwere Gerät“ für die nächste Phase des Krieges denn „braucht“. Dazu der CDU-Verteidigungspolitiker Wadephul: „Es ist eine militärische Binse, dass in dieser Phase des Krieges die Ukrainerinnen und Ukrainer, wenn sie sich erfolgreich verteidigen sollen, schweres Gerät brauchen: gepanzertes Gerät, Bergepanzer, Brückenlegepanzer, vielleicht sogar Kampfpanzer, vielleicht sogar Artilleriegeschosse. Die brauchen sie nun mal, um bestehen zu können!“
Einen anderen Grund führen amerikanische und britische Militärexperten an. Die nächste Phase des Krieges wird wohl im Osten und im Süden der Ukraine stattfinden, was Russland strategische und taktische Vorteile verschafft. Strategisch, weil Russland hier sein Kriegsziel von einem „Neurussland“ erreichen könnte, und taktisch, weil hier die Nachschubwege für sein Militär kürzer sind.
Die Experten rechnen damit, dass Russland es hier auf eine militärische Entscheidung anlegt, für die sie auch ein Datum nennen: den 9. Mai, Russlands wichtigster Feiertag im Jahr, der traditionell von einer großen Militärparade begleitet wird. Seit 20 Jahren ist dies Wladimir Putins Tag.
Es ist der Tag, an dem früher die Sowjetunion und heute Russland des Sieges über das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg gedenkt – das ruhmreiche Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“.
Bis dahin, so die Analysen, wolle oder müsse Putin einen bedeutsamen Erfolg vorweisen können. Die Arrondierung seiner Eroberungen im Donbass und die Landverbindung zwischen diesem Gebiet und der Krim könnte er als einen solchen Kriegserfolg „verkaufen“.
Putin stürzen und „Regime change“ als Kriegsziel der USA
Damit steht der Westen vor einer großen Frage: Will er versuchen, den russischen Kriegsherren bis dahin militärisch zu stoppen, um ihm damit eine große Niederlage beizubringen, mit möglicherweise innenpolitischen Folgen: Seine Autorität im eigenen Land zu unterminieren.
Was auf den Versuch hinausliefe, Putin zu stürzen. Erinnert werden muss in diesem Zusammenhang an ein Wort des amerikanischen Präsidenten. „Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ Weil dieser große Satz des amerikanischen Präsidenten, den er in Polen sagte, nicht in dessen Redemanuskript stand, haben die meisten Exegeten es so interpretiert, als habe Biden seinen innersten Gefühlen freien Lauf gelassen.
Was aber, wenn der US-Präsident nicht seine Gefühle zum Ausdruck gebracht hätte, sondern bewusst „Regime change“ als Kriegsziel formuliert hätte? Was also, wenn die Amerikaner inzwischen die Entscheidung getroffen hätten, die Ukraine um keinen Preis Putin zu überlassen?
Das führt zu den Kriegszielen. Und dabei fallen große Unterschiede ins Auge.
Der letzte Teil der Analyse folgt.