Eine Sendung führt sich selbst ad absurdum: In „Die 100 – Was Deutschland bewegt“ kann die ARD das Framing in der Debatte um die Schuldenbremse nicht lassen. Und das trotz guter Vorsätze.
Die Menschen sind wie die Leut’, im Fernsehen gilt das ganz besonders. Jedenfalls dann, wenn ein Sender Normalbürger einlädt, um dort ihre Meinung zu sagen. Das Scheinwerferlicht und das Bewusstsein, von Millionen Zuschauern beobachtet zu werden, lässt die einen zu Hochform auflaufen, während die anderen nervös werden. So war es auch bei der neuesten Ausgabe der ARD-Politshow namens „Die 100 – Was Deutschland bewegt“. Unter der Überschrift „Mehr Schulden, ja oder nein“ waren 100 Bürger eingeladen worden, sich zu positionieren. Es tagte also eine Art Bürgerrat, wie ihn manche als Heilmittel für die Krise der repräsentativen Demokratie anpreisen.
Repräsentativ für die 80 Millionen Bundesbürger war die Auswahl nicht, dafür ist die Grundgesamtheit zu klein. Die ARD erhebt diesen Anspruch auch gar nicht, in der Sendung selbst wird allerdings nicht erklärt, wie die Auswahl vonstatten geht: Die Teilnehmer können sich bei ARD-Sendern bewerben; weil das aber nicht reicht, hilft eine Ticketagentur bei der Rekrutierung; sie greift auf ihre Adressdatei zurück, in der Personen registriert sind, die interessiert daran sind, als Publikum bei Fernsehshows aufzutreten. Mit einem Fragebogen versuchen die federführenden Sender NDR und WDR dann, eine ausgewogene Mischung nach Alter, Geschlecht, Beruf und Wohnort zu erreichen, auch die Haltung zu wichtigen gesellschaftlichen Debatten von Handyverbot bis Migration wird abgefragt, ohne dass die Befragten das Thema der Sendung kennen, zu der sie womöglich eingeladen werden.
Für viele Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist dieses Verfahren zu undurchsichtig, es setzt ein Vertrauen voraus, das die Sender nicht mehr ohne Weiteres für sich in Anspruch nehmen können, auch wenn sich die Unterstellung, die ARD habe für die Sendung im September über die Gefährlichkeit der AfD für die Demokratie gezielt Teilnehmer ausgewählt, als unzutreffend erwies.
Ein gewisses Framing ließ sich für Zweifler an der Neutralität der ARD auch am Montag erkennen, etwa anhand des Umstands, dass eine nachgebaute marode Schultoilette als zentrales Requisit herhielt (wie in einer früheren Sendung ein authentisches Flüchtlingsboot, in das die Teilnehmer einsteigen sollten). Bei Julian Reichelts Sender „Nius“ wäre umgekehrt beim Thema Schuldenbremse vielleicht ein Sofa verwendet worden, das für jene Bürgergeld-Bezieher steht, die die Sozialleistung als bedingungsloses Grundeinkommen missbrauchen.
Mehrheitsverhältnisse verzerrt
Auch wie sich zu Beginn der 75-Minuten-Sendung die Sympathien verteilten, hätte zumindest eine Einordnung verdient gehabt: Etwa 70 Prozent sprachen sich im Studio für eine höhere Verschuldung aus, 20 Prozent dagegen, ein Zehntel war unentschieden. Das gibt die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung nicht annähernd wieder, dort votierten laut einer ARD-Umfrage im August 53 Prozent der Befragten für die Beibehaltung der Schuldenbremse, 41 waren für eine Lockerung.
Unter der Moderation von Ingo Zamperoni wurden anschließend im Wechselspiel Argumente für beide Haltungen vorgetragen; Linda Zervakis durfte sich in mehreren Runden für mehr Schulden aussprechen, Anna Planken für das Einhalten der Schuldenbremse. Nach jedem Plädoyer positionierten sich die Teilnehmer neu auf den sieben Feldern, die zwischen klarer Ablehnung beziehungsweise Zustimmung auch weniger entschiedene Haltungen markierten.
Wie Zamperoni anschließend einzelne Teilnehmer zu ihrer Meinung zum Gehörten befragte, erfüllte im Großen und Ganzen das Gebot der Unparteilichkeit. Was er und die Zuschauer zu hören bekamen, war mehrfach die etwas abgedroschene Klage, dass der deutsche Staat im großen Stil Geld verschwende, obwohl auch die von Planken beschriebenen Skandal-Beispiele aus dem Weißbuch des Steuerzahlerbundes überraschend kleine Summen nennen, gemessen am Gesamtvolumen der Investitionen und im internationalen Vergleich ohnehin. Auf der anderen Seite ging Servakis mit keinem Wort auf die Schwierigkeit ein, die Schuldenbremse so zu lockern, dass das zusätzliche Geld nicht doch für sinnlose Subventionen oder zusätzliche Sozialausgaben aufgewendet wird, sondern tatsächlich für Investitionen.
Bemerkenswert war dagegen die Äußerung einer Teilnehmerin aus Thüringen, die darauf hinwies, dass die Zustimmung zur AfD in ihrem Bundesland stark gestiegen sei, obwohl der öffentliche Raum und die soziale Infrastruktur samt Personalausstattung von Schulen und Kitas vielerorts in bestem Zustand seien. Das von Zervakis vorgetragene Argument, dass nur eine Lockerung der Schuldenbremse das Erstarken radikaler Parteien aufhalten könne, bezeichnete sie als zu schlicht.
Plötzlich die Vermögensteuer
So ging es hin und her, und man sah mit begrenzter Spannung der Endabstimmung entgegen, als sich die Sendung ad absurdum führte. Planken plädierte nämlich unvermittelt für die Einführung einer Vermögensteuer, obwohl sie am Anfang noch argumentiert hatte, dass der Staat kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem habe. Auch wenn es denklogisch sicherlich nicht ausgeschlossen ist, dass ein Befürworter der Schuldenbremse auch eine Vermögensteuer befürwortet – in der Realität kommt das selten vor.
Zur Veranschaulichung ließ Planken einen etliche Meter hohen Fahnenmast aufrichten, der für das Vermögen von Lidl-Eigner Dieter Schwarz stand, während eine flache Münze das Durchschnittsvermögen der Deutschen symbolisierte. Zur Unterfütterung wurden Zahlen präsentiert, wonach es in den USA eine recht hohe Vermögensteuer gebe. Den Vergleich der Gesamtsteuerbelastung in beiden Ländern sparte sich die Redaktion dagegen. Da war es dann doch wieder, das Framing durch die Auswahl von Fakten.
Bei der Abstimmung über diesen Punkt setzte im Studio dann auch eine Art Völkerwanderung ein: beide Lager wechselten die Seiten. Es war der Höhepunkt des Abends, als ein Mann im Publikum – einer von wenigen Teilnehmern mit Migrationshintergrund – begründete, warum er gegen die Vermögensteuer sei. Er gönne Leuten wie Schwarz, die Hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen hätten, ihren Reichtum. Und er erinnerte Zamperoni an eine seiner Reportagen aus den USA, in denen Amerikaner zu Wort kamen, die davon schwärmten, wie wichtig es sei, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen.
Bei der Endabstimmung verzeichnete das Lager der Befürworter der Schuldenbremse einen leichten Zuwachs. Ob es daran lag, dass einige durch die Vermögensteuer noch ganz durcheinander waren und auf der falschen Seite stehengeblieben waren? Oder daran, dass Befürworter der Schuldenbremse die klügeren Beiträge geliefert hatten? Es wird sich nicht klären lassen, aber es ist am Ende auch egal.
Quelle: F.A.Z.