Folgen der Wirtschaftskrise

„Viel zu viele in diesem Land haben nicht bemerkt, was die Stunde geschlagen hat“

22.10.2024
Lesedauer: 4 Minuten
Landrat Christoph Göbel (CSU) Quelle: Claus Schunk/picture alliance/SZ Photo; Christoph Gramann; generativ bearbeitet; Montage: Infografik WELT

Ausufernde Sozialgesetze und sinkende Einnahmen in der Wirtschaftsflaute: Viele Kommunen und Gemeinden geraten finanziell in Bedrängnis. Christoph Göbel, CSU-Landrat im wohlhabenden Münchener Speckgürtel, sagt, er habe noch nie so in der Klemme gesteckt. Es brauche ein politisches Umdenken.

Die Kosten vieler Landkreise und Kommunen explodieren – und nicht nur klamme Regionen in Ostdeutschland schlagen Alarm. Christoph Göbel (CSU), 49, ist als Landrat verantwortlich für das Umland rund um die bayerische Landeshauptstadt. Sein Landkreis München finanziert sich über Gebühren, erhält Anteile an der Grunderwerbsteuer und vor allem Abgaben der Städte und Gemeinden, die sogenannte Kreisumlage. Deren Höhe wird anhand der kommunalen Einnahmen von zwei Jahren zuvor errechnet.

WELT: Herr Göbel, im Haushaltsentwurf Ihres Landkreises für 2025 klafft ein 90-Millionen-Euro-Loch. Wir reden über den wohlhabenden Münchener Speckgürtel – wie kann das sein?

Christoph Göbel: Der Landkreis München ist tatsächlich die wirtschaftsstärkste Gebietskörperschaft Deutschlands, ProSiebenSat1 hat seinen Hauptsitz in Unterföhring, auch die Allianz ist dort stark vertreten. Auf 11.000 Einwohner kommen 24.000 sozialversicherungspflichtige Jobs.

Deshalb spüren wir konjunkturelle Schwankungen besonders früh und intensiv, besonders wenn die Unternehmen leiden. Die Gewerbesteuer und damit unsere Steuereinnahmen fallen deutlich niedriger aus als in früheren Jahren. An unserem Landkreis zeigt sich: Die Verwerfungen der deutschen Wirtschaftspolitik schlagen stark ins Kommunale durch.

WELT: Sie machen die Wirtschaftspolitik der Ampel-Koalition in Berlin mitverantwortlich für die finanziellen Einbußen. Können Sie das erklären?

Göbel: Das größte Problem ist aus meiner Sicht ein psychologisches. Es fehlt an Vertrauen in die politischen Maßnahmen der Ampel, es fehlt an einem konkreten Ziel, an dem sich die Unternehmen ausrichten können. Die Energiepolitik war und ist ein sehr großes Damoklesschwert für die deutsche Wirtschaft, die Bürokratie bleibt ebenfalls extrem hoch, weil die Vorschriften nicht entschlackt werden. Noch haben wir in unserem Landkreis so gut wie Vollbeschäftigung, aber auch bei uns stieg die Arbeitslosigkeit zuletzt um einen Prozentpunkt. Andere Kommunen leider sicher viel stärker.

WELT: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) etwa sagte vergangene Woche bei „Markus Lanz“, es gebe in vielen kommunalen Haushalten eine Kostenexplosion – unter anderem durch „ausufernde Sozialgesetze“ und die „Aufwendungen für Flüchtlinge“. Gehen Sie da mit?

Göbel: Das kann ich nur bestätigen. Einen Unterschied gibt es zur Lage in Tübingen: Aufwendungen für Asylbewerber trägt in Bayern vor allem der Freistaat, Maßnahmen zur Integration die Kommunen. Aber grundsätzlich gilt: Das bürokratische Netz wird immer dichter, die Ansprüche immer höher. Diese Entwicklung ist das fatale an konjunkturellen Dellen wie aktuell: Wir haben fehlende Einnahmen und gleichzeitig explodierende Sozialkosten, etwa in der Sozialhilfe und in der Jugendhilfe.

WELT: Können Sie das an einem konkreten Beispiel festmachen?

Göbel: Die Zahl der Kinder, die heute einen Schulbegleiter und Unterstützung in der Klasse brauchen, ist massiv gestiegen. Früher schlug dieser Posten mit einigen hunderttausend Euro im Haushalt zu Buche, innerhalb weniger Jahre stehen wir nun bei über acht Millionen Euro Ausgaben. Etwa zwei Drittel unseres Haushaltsvolumens entfallen auf den Bereich der sozialen Sicherheit, und ich kann dort gar nicht streichen.

Das sind feste, einklagbare Ansprüche, der Bund macht die Gesetze – und die Kommunen müssen diese oft finanzieren. Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte darüber, welche Sozialstandards wir uns noch leisten können.

WELT: Sie sprechen von hohen sozialen Standards, die nicht antastbar sind. Aber wie wollen Sie dann Ihr Haushaltsloch stopfen?

Göbel: Ich kann schmerzhafte Einschnitte nicht ausschließen. Anders als die Sozialleistungen ist etwa der öffentliche Nahverkehr eine freiwillige Aufgabe, hier kann ich den Rotstift ansetzen. Das würde bedeuten, dass unsere zentrale U-Bahn-Linie im Berufsverkehr nicht mehr alle zehn Minuten kommt, sondern nur noch alle 20. Kommunen in anderen Regionen werden darüber nachdenken, das Theater oder das örtliche Schwimmbad zu schließen.

Wir werden als Landkreis sicher auch die Kreisumlage erhöhen müssen, also die Abgaben der Städte und Gemeinden an uns. Das wird wiederum große Auswirkungen auf die kommunale Leistungsfähigkeit haben. So eine Herausforderung ist mir als Landrat noch nie begegnet.

WELT: Am kommenden Donnerstag will die Ministerpräsidentenkonferenz auch über die Sorgen und Nöte der Kommunen diskutieren. Was würden Sie der Runde gerne mit auf den Weg geben?

Göbel: Ich glaube, wir müssen uns als Gesellschaft gemeinsam überlegen, wo wir Prioritäten setzen wollen. Die Standards und Vorschriften müssen runter, das ist klar. Und dann muss uns als Bürger noch bewusster werden: Wir stecken in einer Wirtschaftskrise. Viel zu viele in diesem Land haben nicht bemerkt, was die Stunde geschlagen hat. Wir reden die ganze Zeit über noch ein bisschen weniger Arbeit für noch ein bisschen mehr Lohn, und zwar in allen möglichen Sparten. Wir müssen wieder anpacken – von selbst kommt es nicht.

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