Der Journalismus hat sich in den vergangenen Jahren auf Abwege begeben. Was wir brauchen: wertfreie Berichterstattung ohne politische Einengung und moralisches Urteil. Die Analyse.
Haltungsjournalismus ist ein oft benutzter Begriff. Man möchte nach vielen Diskussionen darüber sagen, er ist abgenutzt. Deshalb sei hier von „Moraljournalismus“ die Rede. Moraljournalismus ist: Wenn ein journalistischer Beitrag zu einem Thema unterschwellig Position bezieht, obwohl es zu dem Thema legitime unterschiedliche Auffassungen gibt, und er im Rahmen der Berichterstattung platziert, nicht aber als Kommentar ausgewiesen wird. Trotzdem erkenne ich als Leser, Hörer oder Zuschauer klar, dass mir der Urheber des Beitrags ein übergeordnetes moralisches Werturteil zum Thema mitliefert, das ich für ebenso gegeben und unbestreitbar halten soll wie die rein sachlichen Informationen in dem Beitrag.
Diesen Journalismus gab es in den vergangenen Jahren in großem Umfang. Er scheint sein Scheitern langsam zu erkennen, aber eine wirklich umfassende Abkehr sehe ich noch nicht. Die moralische Überhöhung geschieht nicht mit der Brechstange, sondern durch die Auswahl und Gewichtung einzelner Inhalte, durch das Weglassen von Aspekten, durch Emotionalisierung, durch die Auswahl von Experten- und sonstigen Fremdmeinungen, und natürlich durch die Wortwahl. Ich erfahre also nicht nur, was angeblich Sache ist, sondern auch, wie ich es zu bewerten habe.
Auf dieses „Wie“ hatte sich in den letzten Jahren teilweise eine so große Menge an Meinungsmachern im aktuellen politisch-medial-gesellschaftlichen Debattenraum verständigt, dass oft eine kritische Masse überschritten wurde. Das Ergebnis ist der sogenannte „Mainstream“. Für viele Journalisten, ihre Interviewpartner und Experten wurde ein Abweichen vom Mainstream riskant. Es konnte soziale oder berufliche Ächtung nach sich ziehen. Das Ergebnis: Es gibt wenig Vielfalt und einen weitgehenden Konformismus bei vielen Themen, sei es bei Putin, Trump, Corona, Klima und Energiepolitik, Gender und Diversität, Migration, Islam oder der politischen „Rechten“. Doch der kritische Punkt ist überschritten. Der Moralismus wurde zu realitätsfern. Der Widerstand dagegen nimmt zu.
Wie äußert sich Moraljournalismus konkret? Wenn bei zwei Konfliktparteien bzw. ihren Repräsentanten in Berichten so formuliert wird, dass die eine Seite nicht einfach etwas „sagt“, sondern vielmehr „behauptet“, „ausnutzt“, „instrumentalisiert“, Stimmung macht/schürt“, „kalkuliert“, „davon nichts wissen will“, „hart/unnachgiebig bleibt“ und vieles mehr, während die andere Seite „deutlich macht“, „klar ausspricht, was viele denken“, „Klartext redet“, „hinweist“ (z.B. auf die „Fakten“), sich „für etwas einsetzt“ und „versucht“, bzw. „sich bemüht“, Wege und Lösungen zu finden, etc. – dann wurde zwar an keiner Stelle plump geurteilt und kommentiert, und doch durch den Subtext eine moralische Bewertung vorgenommen, wer hier aus Sicht des Verfassers der Gute und wer der Schlechte ist.
Wenn Kamala Harris „die Herzen der Delegierten öffnet“ …
Wir vernahmen etwa kürzlich in der Berichterstattung aus dem US-Wahlkampf, dass Kamala Harris beim Parteitag „die Herzen der Delegierten öffnete“, „für Begeisterung sorgte“, „leidenschaftlich appellierte“ und „neue Hoffnungen weckte“ (auch diese Liste wäre erweiterbar), und können uns kurz fragen, inwieweit es vorstellbar ist, diese Formulierungen mit dem Subjekt Donald Trump zu lesen oder zu hören. Der moralische Subtext liefert die Meinung, die wir uns bilden sollen, mit – mutmaßlich, weil die Verfasser meinen, es könne in der Gesamtwürdigung auch keine andere geben. Das aber wäre eigentlich stets sehr sorgfältig journalistisch zu betrachten und zu hinterfragen.
Diese Einschränkung gilt nicht, wenn es um Fakten geht – etwa wenn die Berichterstattung vom „völkerrechtswidrigen russischen Angriff gegen die Ukraine“ spricht. Dann dürfte kaum jemand gut begründet widersprechen können, dann sind wir, trotz des mitgelieferten Urteils, im Bereich der Tatsachen – ebenso wie beim „verurteilten Straftäter Trump“. Bei der Beurteilung allerdings der Ursachen des Krieges und der möglichen Wege aus ihm heraus sind wir nicht mehr im Bereich der Tatsachen, zu denen es keine zwei Meinungen geben kann, sei es bei der Frage der Mitverantwortung des Westens und der Ukraine oder der Frage, ob Putin kompromisslos imperialistisch sei.
Gehört nur noch zur Zivilgesellschaft, wer sich „gegen rechts“ engagiert?
Ähnliches haben wir aktuell bei der Berichterstattung über die Landtagswahlen gesehen: Viele Medien sprachen schon im Vorfeld von einer „drohenden“ weiteren „Radikalisierung“ der Länder. Als „Zivilgesellschaft“ wurden nur noch diejenigen bezeichnet, die sich „gegen rechts“ engagieren. Die Berichterstattung stellte fest, dass sich die Hälfte der Wahlberechtigten „Populisten“ oder „den politischen Rändern“, im schlimmsten Fall „Verfassungs- und Demokratiefeinden“ zuwendet. Bei fast jeder Erwähnung der AfD wurde die Bewertung des Verfassungsschutzes hinzufügt, und zwar meist verknappt in der Formulierung „die als gesichert rechtsextrem geltende“ oder gar schlicht „die gesichert rechtsextreme“ Partei. Somit wurden nur noch die bisher etablierten Parteien als „demokratische Parteien“ bezeichnet.
Das stellt natürlich ebenfalls ein klares moralisches Urteil dar. Nicht erwähnt wird, dass man den Verfassungsschutz, auf Bundes- wie auf Landesebene, sehr wohl kritisch sehen kann, sowohl hinsichtlich seiner Methoden und Ergebnisse als auch seiner Anbindung an die Innenministerien. Von einer entsprechend kritischen Berichterstattung über den Verfassungsschutz, die der Moraljournalismus noch beim Thema NSU oder der Beurteilung von Ex-Präsident Maaßen zeigte, ist beim Thema AfD nun aber nichts zu sehen, mutmaßlich, weil die Einschätzung ja genehm ist. Sie ist inhaltlich genehm und man kann sich hinter ihr verstecken, muss nicht mehr selbst journalistisch erarbeiten und nachweisen, warum man die Partei als rechtsextrem bezeichnet. Worin genau dann übrigens die Gefahren liegen, wie die Partei dann die Demokratie aushöhlen möchte, ganz konkret, wird auch selten skizziert. Das Diffuse, dessen Gebrauch der AfD vorgeworfen wird, gebraucht man selbst.
Hierzu passt auch die moralisch aufgeladene Begriffszuweisung „Populisten“. Populisten, so interpretieren die meisten den Begriff, argumentieren unsachlich, versuchen, die Bevölkerung eher über Stimmungsmache zu ihren Gunsten zu manipulieren, benutzen dazu einfache Antworten und billige Parolen und überhöhen und schüren Ängste vor dem politischen Gegner und anderen Gefahren. Bei Lichte und nüchtern betrachtet, tun das täglich Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker jeder Couleur, auch in Regierungsverantwortung, denen ihr Populismus selten vorgeworfen wird. Als seien Parolen gegen rechts keine billigen Parolen, als wäre das Schüren von Angst vor Rechten kein Schüren von Angst. Die Begriffe „Demokratieverächter“ oder „Antidemokraten“ zu benutzen und bei demokratischen Wahlen von „demokratischen“ und „undemokratischen“ Parteien und Stimmabgaben zu sprechen, legt dann nochmal eine Schippe drauf. Die meisten Wähler von AfD und BSW, die sich sehr wohl als Demokraten in Ausübung eines demokratischen Rechtes sehen, nehmen das mit verständlichem Unmut zur Kenntnis.
Meine Überzeugung: Der Moraljournalismus muss immer scheitern – aus sieben Gründen:
1. Die Realität, die über Jahre lieber ausgeblendet wurde, ist trotzdem real.
2. Das Publikum, das die Realitäten trotzdem wahrnimmt und erlebt, sie aber nicht angemessen dargestellt und sein Erleben somit nicht respektiert sieht, wendet sich ab. Spaltungen und Gräben in der Gesellschaft vertiefen sich. Gerade die Öffentlich-Rechtlichen, die ja für alle da sein sollen, wären gefordert, stärker gegenzusteuern.
3. Als Journalist mitzuteilen, was man für gut und böse erachtet, gehört in die Rubrik Kommentar und sonst nirgendwohin. Es schadet sonst dem Ansehen des Journalismus-Berufs.
4. Die ständige Überskandalisierung nutzt sich ab und wird nicht mehr ernst genommen, nicht mal mehr da, wo sie vielleicht begründet sein könnte. Was auch immer berechtigterweise gegen die AfD vorgetragen wird und man unsympathisch bis gefährlich finden kann – die neue NSDAP oder den neuen Hitler in der Person Björn Höcke kann man im Realitätscheck kaum erkennen.
5. Der rigide Moralismus schreckt Menschen mit anderen Meinungen inklusive Expertise ab, ihre Meinungen überhaupt zu äußern und zu begründen, da sie ihren Ruf riskieren.
6. Das zu lange Ausblenden von Realitäten, etwa der Gewalt durch spezielle Gruppen von Ausländern bzw. Zuwanderern oder die Probleme der hiesigen Wirtschaft durch die rigorose Energiewende, hat die Probleme verschärft. Der Moraljournalismus hat sie nicht kritisch thematisiert, und was nicht im grellen Licht der Medienaufmerksamkeit steht und in der Folge bekämpft wird, kann weiter wuchern. Jetzt haben wir Wirtschaftsprobleme und Probleme mit Ausländerkriminalität und nicht gelungener Integration und Überforderung von Kommunen in noch höherem Ausmaß, einem, das uns noch lange beschäftigen wird. Politiker konnten zu lange Hand in Hand mit Leitmedien von „rechter Polemik“ sprechen und die Probleme ebenfalls herunterspielen.
7. Der Moraljournalismus vernachlässigt die Aufgabe, gerade die Mächtigen mit besonders kritischem Blick zu beobachten. Er richtet diesen vornehmlich auf die Oppositionsparteien und deren Wähler, also auf Bürger, die im Vergleich zu den Regierenden wenig ausrichten können. Wer schließlich verfügt überhaupt über die Mittel zur Einflussnahme auf die staatlichen Institutionen und demokratischen Prozesse, wenn nicht die Regierenden? Wer sonst sollte besonders stark zu Manipulationen – auch zum Zwecke des Machterhalts – neigen, wenn nicht sie? Wenn der Verfassungsschutz in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium Individuen für gefährlich erklärt, die aus seiner Sicht „Delegitimierung des Staates“ betreiben, was jeden treffen kann, dann müsste kritischer Journalismus hellhörig und hellwach werden! Auch hier sind vor allem die Öffentlich-Rechtlichen gefordert: Sie sollten die aktuell Regierenden in ihrer Abwehrhaltung und Machtausübung gegenüber unliebsamen Bürgermeinungen viel stärker hinterfragen. Bei Corona gelang das nicht. Der Journalismus sollte aus den Fehlern dieser Zeit lernen.
Moraljournalismus löst keine Probleme. Er macht sie größer und schafft neue. Er bietet keine breiten, einladenden Debattenräume, sondern verengt sie. Er führt die Menschen nicht zusammen, zum Austausch aller berechtigten Argumente, sondern vertieft die Gräben. Er sucht nicht vorrangig nach den Verfehlungen der Mächtigen, sondern lässt sich zu oft von ihnen in die Pflicht nehmen und nennt das auch noch „gemeinsam für die Demokratie“. Er verprellt das Publikum, obwohl er doch stets nur das Gute will und im Sinne des Guten und Richtigen berichtet, und versteht es nicht. Die Antwort lautet: Genau deswegen, weil er dieses tut, verliert er es.
Das Rezept wäre einfach: Journalismus. Meinung gerne im Kommentar, und ansonsten wertfreie Berichterstattung, ohne politische Einengung und moralisches Urteil. Sagen, was ist, und nicht sagen, was gefälligst sein soll oder gefälligst nicht zu sein hat. Denn das führt am Ende nur zum Scheitern.
Dirk Jacobs wurde 1970 in Dortmund geboren. Der studierte Volkswirt ist Fernsehjournalist und lebt in Berlin. Er arbeitet vorrangig als Autor und Reporter für das ZDF (Morgenmagazin und Mittagsmagazin). Er war viele Jahre zudem Sportreporter für das ZDF und RBB/ARD sowie Nachrichtenmoderator beim RBB und bei der Deutschen Welle.