Kann Kiews Armee bald Ziele im russischen Territorium mit westlichen Raketen angreifen? Der Verteidigungsminister sieht darin kein Problem. Zustimmung kommt auch aus dem EU-Parlament.
Im Abwehrkampf gegen die Invasionstruppen des Kreml-Machthabers Wladimir Putin fordert die Ukraine von den westlichen Verbündeten seit langem weitreichende Waffen. Dem angegriffenen Land setzen insbesondere russische Attacken mit Raketen und Marschflugkörpern zu.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat deshalb wiederholt darum gebeten, dass Großbritannien und die USA den Einsatz von Raketen freigeben, mit denen die Ukraine Ziele im russischen Hinterland angreifen kann. Putin droht, dass dies einer Kriegsbeteiligung der Nato gleichkäme.
Die USA beschränken den Einsatz ihrer Waffen gegen Russland nach offizieller Darstellung auf die Abwehr der russischen Offensive gegen die ostukrainische Stadt Charkiw. Die britische Regierung äußert sich bislang nicht konkret zur Frage, was sie der Ukraine mit den von ihr zur Verfügung gestellten Waffen genau erlaubt. Diese Frage dürfte auch beim Treffen des britischen Premiers Keir Starmers mit US-Präsident Joe Biden am Freitag in Washington ein Thema sein.
„Putins Drohungen sind Putins Drohungen. Mehr muss man dazu nicht sagen.“
Boris Pistorius, Bundesverteidigungsminister (SPD)
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius macht nun deutlich, dass er eine mögliche Erlaubnis von Nato-Partnern für die Ukraine zum Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele in Russland durch das Völkerrecht für gedeckt hält. Es stehe den USA und Großbritannien frei, dies mit Blick auf die von ihnen gelieferten Waffen „so zu entscheiden“, sagte Pistorius einem Bericht der Agentur AFP zufolge am Freitag in Berlin.
Dies sei ihre Sache. „Das Völkerrecht lässt das zu“, sagte der SPD-Politiker mit Blick auf Hinweise, dass die USA und Großbritannien kurz davor stehen könnten, einen solchen Einsatz zu ermöglichen. Das habe er nicht zu bewerten, so Pistorius.
Mit Blick auf Warnungen von Putin, dass sich die Nato dann im Krieg mit seinem Land befinde, sagte Pistorius: „Putins Drohungen sind Putins Drohungen. Mehr muss man dazu nicht sagen. Er droht, wann immer es ihm beliebt, und lockt, wann immer er es für richtig hält.“
Pistorius äußerte sich beim Besuch des litauischen Verteidigungsministers Laurynas Kasciunas. Er sagte, Putin habe in den vergangenen Jahren immer wieder gedroht. Ziel sei es, westliche Staaten von der Unterstützung der Ukraine abzuhalten. Diese müssten der Ukraine aber alles zur Verfügung stellen, damit sie ihr Territorium zurückerobern könne.
Putin wertet Waffeneinsatz als Kriegsbeteiligung der Nato
Putin hatte einen möglichen ukrainischen Einsatz westlicher weitreichender Präzisionswaffen gegen Ziele tief auf russischem Territorium als Kriegsbeteiligung der Nato gewertet. „Das wird bedeuten, dass die Länder der Nato, die USA, die europäischen Länder mit Russland kämpfen“, sagte er.
Der russische Präsident erklärte weiter, damit würde sich das Wesen des Krieges ändern. „Wir werden entsprechende Entscheidungen treffen, ausgehend von den Bedrohungen, denen wir ausgesetzt sein werden“, sagte er, ohne Details zu nennen.
„Es ist kein Geheimnis, von welchen Basen aus Wladimir Putin seine Raketen, seine Marschflugkörper abschießt. Und es ist konform, auch mit dem Recht, dass diese ausgeschaltet werden.“
Strack-Zimmermann: Nicht von Putin einschüchtern lassen
Auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, hält Angriffe auf militärische Ziele in Russland für legitim. „Jeder weiß, wir wissen es, es ist kein Geheimnis, von welchen Basen aus Wladimir Putin seine Raketen, seine Marschflugkörper abschießt. Und es ist konform, auch mit dem Recht, dass diese ausgeschaltet werden“, sagte die dem rbb inforadio.
„Wir reden von rein militärischen Zielen, damit hier kein Missverständnis aufkommt. Es kann eben nicht sein, dass die Welt zuschaut, wie die Ukraine in Trümmer gesetzt wird und das Momentum, dort wo die Raketen abgeschossen werden, nicht zerstört wird“, sagte die FDP-Politikerin.
Sie warnte ebenfalls davor, sich von Putin einschüchtern zu lassen. Eine Chance für Diplomatie gebe es nur durch militärische Stärke der Ukraine: „Es gibt nur eine Möglichkeit der Diplomatie, also mit Wladimir Putin überhaupt in ein realistisches Gespräch zu kommen, wenn der Druck, der militärische Druck, bleibt oder sogar steigt. Nur dann wird Wladimir Putin erkennen oder die Staaten, die ihm sehr nahe sind, erkennen, dass der Kriegsverlauf nicht zu seinen Gunsten verläuft.“
Nur aus der Stärke heraus könne die Ukraine überhaupt überleben, so die FDP-Politikerin. „Und da sollten wir uns keine Tabus auferlegen, die uns sozusagen von Wladimir Putin vor die Tür gelegt werden.“ Zuvor hatte Putin den Westen erneut davor gewarnt, der Ukraine zu erlauben, weitreichende Waffen gegen Ziele in Russland einzusetzen. In einem solchen Fall befände sich die Nato im Krieg mit Russland.
Strack-Zimmermann betonte erneut, man müsse aufpassen, dass man die Geschichte Putins nicht übernehme. „Tatsache ist, er hat angegriffen, er hat geglaubt, in wenigen Wochen die ganze Ukraine einnehmen zu können.“
Die Bundesregierung machte deutlich, dass sich für sie derzeit nicht die Frage stelle, ob sie der Ukraine den Einsatz von Waffen mit großer Reichweite gegen Ziele in Russland erlauben soll. Die aktuelle Diskussion drehe sich „um Waffen, die wir gar nicht geliefert haben“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit der Agentur AFP zufolge. Die in Rede stehenden Waffen seien „qualitativ andere“, als die von Deutschland an die Ukraine gelieferten – und überträfen diese in ihrer Reichweite.
Das Weitreichendste, was die Bundesrepublik geliefert habe, seien Himars Raketenwerfer mit 100 Kilometern und die Panzerhaubitze 2000 mit 40 Kilometer Reichweite. Insofern seien auch keine Änderungen notwendig, betonte Hebestreit.
Zur bereits vielfach geforderten Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine sagte der Regierungssprecher: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sei „da sehr entschieden – und da kann ich keinerlei Meinungsverschiebung erkennen.“ Scholz lehnt die Lieferung ab. (lem)