Attacken mit Stichwaffen nehmen in Deutschland derzeit gefühlt stark zu. Aber ist dem wirklich so? Eine neue Website sammelt Daten über Angriffe in Echtzeit. Andreas Ziegler hat Messerinzidenz.de programmiert. Hier erzählt er, was ihn antreibt.
Der Terroranschlag von Solingen, bei dem drei Menschen durch Messerschnitte starben. Dazu beinahe täglich Meldungen über Auseinandersetzungen, bei denen Menschen durch Stich- oder Schnittverletzungen tödlich oder schwer verletzt wurden. Gefühlt hat Deutschland derzeit ein Problem mit Gewaltkriminalität.
Aber geben die Zahlen das wirklich her? Bei der Diskussion helfen soll eine Website: Messerinzidenz.de. Dort werden täglich mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) polizeilich protokollierte Messerattacken dokumentiert und visualisiert. Ausgedacht hat sich das der Software-Entwickler Andreas Ziegler. Der 32-Jährige lebt in Frankfurt/Main. Mit seinem Datenprojekt arbeitet er seit Juli 2024 daran, die von vielen Menschen gefühlte Bedrohung im öffentlichen Raum transparent zu machen.
Die Website stößt auf großes Interesse. Allein in der vergangenen Woche habe Ziegler mehr als eine Million Klicks gemessen, sagt er.
WELT: Herr Ziegler, eine Website, die Angriffe mit Stichwaffen protokolliert – wie kamen Sie auf die Idee?
Andreas Ziegler: In den vergangenen Monaten häuften sich die Nachrichten über Messerangriffe. Mich interessierte, ob das eine selektive Wahrnehmung von mir ist, ob es einfach in den Medien übertrieben dargestellt wird oder ob sich die Anzahl der Vorkommnisse wirklich ändert. Ich hatte also keine Agenda im Sinne von: „Oh, es gibt da dieses Messerproblem, das zeige ich jetzt allen!“, sondern es war genau umgekehrt: Ich wollte erst die Daten sammeln, möglichst in ihrer Rohform, um dann auch persönlich meine Schlüsse ziehen zu können.
WELT: Und können Sie schon ein Zwischenfazit ziehen? Gibt es wirklich immer mehr Angriffe oder kommuniziert die Polizei womöglich offener?
Ziegler: Die Datensammlung auf meiner Seite hat jetzt erst begonnen. Eine rückwirkende Erfassung wäre leider nicht für alle Bundesländer möglich und würde ein unvollständiges Bild liefern. Vorjahreswerte gibt es also erst nächstes Jahr. Und ja, ich kann natürlich nicht ausschließen, dass die Pressestellen der Polizei mehr öffentliche Meldungen zu Messerangriffen erstellen als früher, weil die Sensibilität gestiegen ist. Das ist ein kleiner Unsicherheitsfaktor.
WELT: Wie lange hat es von der Idee bis zur Realisierung gebraucht?
Ziegler: Circa vier Wochen. Technisch ist die Umsetzung nicht sonderlich komplex. Trotzdem ist Software nie fertig – ich plane noch viele weitere Funktionen und Filter. Auch an der Datenbasis arbeite ich weiter. So möchte ich etwa den Usern die Möglichkeit geben, Duplikate oder unpassende Meldungen zu melden.
WELT: Wie genau funktioniert der Tracker?
Ziegler: Ich durchsuche die offiziellen Presseportale der Bundesländer nach Schlagworten. Die Ergebnisse werden dann von einer KI, einem sogenannten Large Language Model, gelesen. Diese extrahiert relevante Informationen – Ort, Datum, Tathergang und so weiter. Die Daten werden anschließend geocodiert, um sie auf einer Karte anzeigen zu können.
WELT: Gesucht wird derzeit nachacht Begriffen, darunter sind: Messer, Machete, Cutter, Stiche. Reicht das oder ist das Tatgeschehen so vielfältig, dass der Filter eigentlich schon wieder ergänzt werden müsste? WELT vermeldete etwa gerade erst einen Angriff mit Grillspießen …
Ziegler: Das ist sicherlich zu wenig. Ich werde diese Schlagworte dynamisch anpassen müssen, um ein möglichst vollständiges Lagebild erstellen zu können. Dafür lese ich persönlich viele Nachrichten, um abzugleichen, ob mein Tool diese Vorfälle auch erfasst.
WELT: Wie stellen Sie sicher, dass es offizielle Meldungen der Polizei sind und nicht irgendwelche Postings in den sozialen Netzwerken?
Ziegler: Ich bediene mich absichtlich nur an den offiziellen Presseportalen, um eine möglichst hohe Reputation bei der Quellenangabe gewährleisten zu können. Allerdings kann es auch vorkommen, dass Fälle nur in der Boulevardpresse oder in lokalen Medienauftauchen, es dafür aber keine „offiziellen“ Pressemitteilungen gibt. Dort habe ich dann eine Untererfassung.
WELT: Was soll oder vielmehr was könnte Ihr Projekt bewirken?
Ziegler: Hier gibt es, denke ich, mehrere Ebenen. Erstens wäre es schön, wenn das Projekt dazu beitragen kann, zu beziffern, ob es ein Problem gibt – und wenn ja, wie groß dieses ist. Zusätzlich lässt sich mittel- bis langfristig dann ablesen, ob die Anzahl der Vorfälle größer oder kleiner wird. Zweitens tragen die Rohdaten und Quellenangaben idealerweise zur Ursachenforschung bei.
WELT: Wie ist die Resonanz auf Ihr Projekt?
Ziegler: Ich bekomme sehr viel Zuspruch und positives Feedback.Eine Rentnerin etwa hat mir eine Mail geschickt, in der stand: „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ihre Seite echt einen Nerv trifft und super ist! Ich habe spontan 10 Euro gespendet (auf der Seite gibt es die Möglichkeit, Ziegler finanziell zu unterstützen, d. Red.), mehr geht leider nicht, weil meine Rente zu niedrig ist.“ Ein anderer Nutzer schrieb mir: „Es ist eine sehr gute Idee, nicht nur die Rohdaten zu zeigen (um Objektivität zu gewährleisten), sondern auch dazu beizutragen, dass die Menschen sich besser informieren können.“
WELT: Haben Sie nicht Sorge, dass Sie oder das Tool aus irgendeiner politischen oder gesellschaftlichen Ecke „vereinnahmt“ werden?
Ziegler: Ich bemühe mich wirklich, die Daten und die Website so neutral wie möglich zu halten. Ich erschaffe ja auch keine neuen Daten, sondern sammle sie, um sie leicht zugänglich zu machen. Ich würde daher sagen, es ist nicht möglich, „neutrale Daten und Fakten“ zu vereinnahmen. Mit diesen Daten könnte man allerdings verschiedene Arten von „Storys“ erzählen. Zum Beispiel so: „Jeden Tag sterben mehr Personen bei Verkehrsunfällen als durch Messerangriffe, daher haben wir kein großes Problem.“ Oder aber: „Schaut euch den täglichen Messerterror an!“ Ich bin aber Software-Entwickler und kein Journalist. Deshalb überlasse ich die Interpretation lieber anderen.
WELT: Sie handeln also als Privatmann – es gab oder gibt keinen Auftrag oder eine Entlohnung für Messerinzidenz.de?
Ziegler: Ja, das ist ein Hobbyprojekt von mir, das ich nebenbei erstellt habe und das plötzlich riesige Wellen geschlagen hat.
WELT: Sind Sie selbst politisch aktiv, als Mitglied einer Partei oder einer politischen Vereinigung?
Ziegler: Nein, weder noch.
WELT: Steckt hinter all dem auch persönliche Betroffenheit? Etwa, weil Sie selbst oder jemand, der Ihnen nahesteht, schon einmal in einer brenzligen Messer-Situation waren?
Ziegler: Nein, mir ist zum Glück noch nichts passiert.
Kerstin Rottmann ist Nachrichten-Redakteurin bei WELT. Für das Panoramaressort spricht sie mit Menschen über gesellschaftliche relevante Themen – von Kinderarmut über das Leben mit ADHS bis hin zu den Erfahrungen mit der elektronischen Patientenakte.